Ich war Hitlerjunge Salomon
Gegensätzlichkeit sein. Freude und Traurigkeit würden
in dem Haus aufeinanderprallen, das mir nicht mehr gehörte.
»In welchem Stockwerk wohnst du?« fragte ich. »Im zweiten,
rechte Tür, und vergiß nicht, zu kommen!« In meinem Kopf
ging al es durcheinander, und ich verstand nur mit Mühe. Also
würde der Empfang nicht in unserer Wohnung stattfinden,
sondern in der Etage über uns. Ich war enttäuscht. Ich könnte
unsere Wände nicht berühren, die noch die Küchendüfte
meiner Mutter ausströmten. Dagegen war ich in die Wohnung
unserer jüdischen Nachbarn eingeladen worden, deren Sohn
mit mir in die Klasse gegangen war. Wir hatten zusammen
Schulaufgaben gemacht. Jetzt befanden sie sich im Ghetto
oder in Auschwitz, und ich war bereit, bei ihnen zu Hause
zu feiern, unter Leuten, die vor kurzem von ihren Mördern
in ihre Wohnung gesetzt worden waren.
Die Wahrheit schwoll an und wollte explodieren.
Ich versuchte, Fassung zu bewahren und das Mädchen als
ahnungslose Partnerin in diesem dramatischen, verwirrenden
Spiel zu betrachten.
Als ich am nächsten Tag durch die Straßen schlenderte,
begegnete ich einer Menge Passanten, die eilig die letzten
Vorbereitungen zu diesem wichtigen Fest trafen. Ich schaute
192
sie unverhohlen an, als wollte ich ihnen sagen: »Heute bin
auch ich mit von der Partie. Heute abend werde ich nicht
zusammengekauert auf diesem verfluchten Bahnhof sitzen.«
Der stumme Dialog mit diesen Leuten ließ mich meine Ver-
lassenheit nicht ganz so heftig empfinden. Ich war in den
letzten Jahren eigensinnig geworden, und man konnte mir
nicht so leicht die Laune verderben.
Abends begab ich mich, wie aus dem Ei gepellt, zu dem
Empfang. Ich wollte nicht wissen, wer die anderen Gäste wa-
ren, ich vermutete, daß es sich um Verwandte oder Bekannte
handelte. Einer von ihnen war ein Wehrmachtssoldat, dessen
Einheit in der Umgebung stationiert war. Wir waren die beiden
einzigen waschechten Deutschen und als solche Ehrengäste.
Ich strotzte vor Selbstbewußtsein und Stolz.
Der Soldat und ich sprachen dieselbe Sprache. Ich verbarg,
daß ich selbst ein alter Fronthase und letztlich ein »eingemein-
deter« Volksdeutscher war. Ihm galt ich als richtiger Deutscher,
der aus Braunschweig stammte, und ein solcher wollte ich
in seinen Augen auch sein, jetzt und später. Er stieß saftige
Verwünschungen gegen die Russen aus, beklagte sich über ihre
Barbarei, weil sie Dumdum-Geschosse verwendeten und so die
Genfer Konvention brächen. Diese Geschosse drangen in den
Körper ein, explodierten im Körperinneren und verursachten
furchtbare Verletzungen. Er war am Schenkel getroffen wor-
den und erst nach Monaten wieder genesen. Deshalb befand
er sich augenblicklich im Hinterland in einer Flak-Einheit.
Trotz der sonst herrschenden Knappheit quoll das Buffet
von Lebensmitteln über. Es wurde reichlich Alkohol, Selbst-
gebrannter Schnaps und Landwein, und eine ganze Anzahl
von Gerichten serviert. Als Mitternacht näherrückte, stieg die
193
Stimmung. Meine Gastgeber besaßen ein altes Grammophon
und Platten.
Ich forderte meine Gastgeberin zum Tanzen auf. Al es sang,
tanzte, lachte Tränen. Auch ich. Doch ich weinte Tränen der
Trauer. Meine Bertha hatte mir den Tango beigebracht, den
ich jetzt tanzte. Ich schloß die Augen, drückte meine Partnerin
an mich und überließ mich der Flut der Erinnerungen. Sie
deutete diese Hingabe als Zuneigung, während ich mich in
den Schlingen quälender Erinnerungen verfing. Dank dieses
liebenswerten Mädchens konnte sich mein wahres Ich ablösen
und in die verbotene Vergangenheit gleiten, während meine
Fassade die angenehmen Gefühle und den Flirt genoß.
Der Tanz meiner Träume in meiner alten Welt wurde plötz-
lich unterbrochen. Bis zu dem mit soviel Spannung erwarteten
mitternächtlichen Glockenschlag waren es nur noch wenige
Minuten. Wir faßten einander unter und drehten feierlich
und jubelnd eine Ehrenrunde für Führer und Sieg. Ich auch.
Doch meine Wünsche richteten sich nicht auf denselben Sieg.
Ein Glück, daß Gedanken und Gefühle unsichtbar sind. Ich
behielt meine Stoßgebete für mich. Die Veranstaltung konnte
weitergehen.
Wie hätte ich ahnen können, daß mich das Geschick auf
diese Weise nochmals in mein Haus führen würde, vier Jahre,
nachdem ich es verlassen hatte, um in ihm einen Freuden- und
Tränenreigen zu tanzen! Ich »amüsierte« mich in der Wohnung
meiner Freunde und Nachbarn,
Weitere Kostenlose Bücher