Ich war Hitlerjunge Salomon
während sie sich im Ghetto
befanden! Die Möbel, die dageblieben waren, schauten mich
stumm an.
Meine Zeit in Lodz ging langsam zu Ende. Mit äußerst
widersprüchlichen Gefühlen verließ ich diesen schicksalhaften
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Ort. Ich wußte, ich hatte den Forderungen der Gegenwart
zu gehorchen und mein Dasein wie bisher weiterzuführen.
Die Fahrten, die ich noch durch das Ghetto unternahm,
brachten nur neue Enttäuschungen. Ich verlor alle Hoffnung,
ich war untröstlich. Jupps Freundin sah ich noch ein- oder
zweimal, dann nahmen wir Abschied. Ich sagte innerlich auch
dem seltsamen Straßenbahnfahrer Adieu, mit dem ich kein
einziges Wort gewechselt hatte, ich ließ ihn sich über meine
nervösen Hin- und Rückfahrten weiter wundern.
– In Israel saß unlängst bei einem Treffen von Juden aus
dem Ghetto in Lodz ein rüstiger, bemerkenswert vitaler Greis.
Im Laufe der Unterhaltung erzählte er mir, daß er gewöhnlich
in Schweden wohne, jedoch zweimal im Jahr nach Israel in
sein Haus nach Savyon fahre. Er hieß Binem Koppelmann.
Wir kamen auf die Shoa zu sprechen. Der Mann fing an, von
seinen Wanderungen zu erzählen, angefangen vom Ghetto in
Lodz bis zu seiner Ankunft in Auschwitz, wohin er mit den
letzten Transporten gekommen war. Er sprach ununterbrochen,
sprach leidenschaftlich und beachtete meine Fragen nicht. Es
gelang mir nicht, ihn zu unterbrechen. Mich hatte sein Beruf
stutzig gemacht. Er sei nämlich Straßenbahnfahrer gewesen,
sagte er. »Aber wie war es möglich«, fragte ich jetzt dazwischen,
»wie war es möglich, daß sich ein Jude außerhalb des Ghet-
tos bewegen durfte?« Seinen Worten nach war er der einzige
gewesen, der dieses Vorrecht genoß. In seiner Jugend hatte
er im Elektrogerätewerk AEG in Berlin gearbeitet, und als
er auf die Qualifikation verwies, die er dort erworben hatte,
hatten ihm die deutschen Behörden eine Sondererlaubnis zur
Führung der Straßenbahn ausgestellt.
Ich nutzte eine Pause in seinem Redeschwall und flocht
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ein, daß auch ich das Ghetto in der Straßenbahn durchfah-
ren, mich aber damals unter einer Uniform der Hitlerjugend
verborgen hätte. Der Mann erschrak und verstummte. Er
runzelte erstaunt die Stirn. Ich spürte, wie seine Gedanken
zurückgingen, und er in seinem Gedächtnis kramte. Er schaute
mich lange an und murmelte dann zögernd: »Sie waren das
also? Waren Sie der Hitlerjunge, der jeden Tag hinter mir in
der Bahn stand? Ja, ich war der Fahrer. Ich hatte Angst vor
Ihnen und wagte nicht, nach einer Erklärung zu fragen. Es
war mir seltsam und ungewöhnlich vorgekommen. Aber nie
hätte ich gedacht, daß Sie Jude seien.«
»Und ich«, antwortete ich, »ich dachte, daß Sie Pole seien,
ein mißtrauischer Pole, der mir auf die Schliche kommen
wollte.«
Während uns beiden die Schweißperlen über das Gesicht
rannen, erzählte ich ihm meine Geschichte. Tatsache ist, daß
ich nach diesen zehn Ferientagen enttäuscht die Heimfahrt
in meine Schule antrat. Diesmal las ich keine Zeitung. Ich
setzte mich verwirrt irgendwohin. Ich war erschüttert, ich
wußte nicht mehr, zu welcher Gruppe ich gehörte, ich wußte
nicht mehr, wo ich mich aufgehalten hatte und was mich nun
erwartete, ich wußte nicht mehr, wo mein Zuhause war, wo
mein Vaterland, und wer ich wirklich war. Al e Möglichkeiten
flossen ineinander, meine Gedanken gingen in die Irre.
– Vor nicht allzulanger Zeit fragte mich eine Gymnasia-
stin, warum ich nicht versucht hätte, mich in das Ghetto
einzuschleichen und das Schicksal meiner Eltern zu teilen.
Ich habe geantwortet, daß man nicht vorhersehen könne, wo
das Todeskarussell, das sich unablässig über unseren Köpfen
drehe, anhalten werde. Ein innerer Mechanismus habe über
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meinen Weg entschieden. Ich hätte gefühlt, daß ich seinen
Befehlen gehorchen mußte. Bei meiner Rückkehr sah ich, daß
sich nichts geändert hatte. Der Himmel war nicht herabge-
fallen, und das Leben ging seinen Gang. Der Krieg trat in
sein fünftes Jahr, und alle glaubten felsenfest an den Endsieg.
Es gab ein fröhliches Wiedersehen mit meinen Kamera-
den, die beeindruckende Geschichten zu erzählen hatten. Ich
steuerte das Meine bei, soweit mir dies möglich war. Ich
umging alle peinlichen Fragen. Diesmal mußte ich mich sehr
anstrengen, um fiktive Abenteuer zu erfinden. Der Abgrund,
der die Realität von der Phantasiewelt trennte, war zu tief …
Die strenge Schuldisziplin und die gewohnte
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