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Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman

Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman

Titel: Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beltz & Gelberg
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die wir zusammen haben.«
    »Hör auf!«, sagt Mama. »Hör auf mit deinen Predigten. Es gibt nichts Gutes an dem, was passiert ist. Überhaupt nichts.«
    Papa verstummt und richtet den Blick wieder auf den Bildschirm. Ich schiebe mich rückwärts in den Flur und gehe in mein Zimmer, schalte den Computer ein und lasse mich mit Who’s That Chick? von Rihanna und David Guetta beschallen. Dröhnende Technomusik, nichts Sentimentales, nichts, das wehtut.
    Fast zwei Drittel meines Lebens sind seit Antons Tod vergangen. Ich kann mich kaum noch erinnern, wie es davor war. Doch, natürlich erinnere ich mich. In gewisser Weise, aber zugleich auch wieder nicht. Ich fühle nicht mehr, wie es vorher war, wie wir im Normalzustand waren. Ich war eine Sechsjährige mit einem dreijährigen kleinen Bruder. Ich weiß, dass ich ab und zu gemein zu ihm war, dass ich sehr wütend werden konnte, wenn er mir meine Sachen weggenommen hat. Ich weiß, dass ich ihn ziemlich nervig fand. Zum Beispiel, als er mein Buch mit den Engelbildern, das ich so liebte, kaputt gemacht hat. Oder als er das Gesicht meiner Barbiepuppe mit Filzstift beschmiert hat. Da hab ich geheult und mir gewünscht, dass es ihn nicht gäbe. Vielleicht habe ich das sogar laut gesagt. Die grauen Tatzen fahren ihre Krallen aus und zerkratzen mein Innerstes, als ich das denke. Mir kommen die Tränen, so sehr brennt es. Ich drehe die Lautstärke noch höher und bewege den Oberkörper im Takt mit dem Dröhnen. Man darf den Schmerz nicht sich selber überlassen, so viel habe ich inzwischen gelernt. Er braucht Gesellschaft. Er will geschaukelt werden, geknetet und zurechtgestutzt, bis er nachlässt.
    Baby, I just wanna dance, I don’t really care
I just wanna dance, I don’t really care, care, care
    Normalerweise würde Papa jetzt die Tür aufreißen und mich auffordern, die Musik leiser zu stellen, aber heute nicht. Vielleicht muss er erst einmal Mama trösten. Vielleicht hat er alle Hände voll zu tun, die schlimmsten Wunden zu versorgen, die ich im Wohnzimmer hinterlassen habe, und er nimmt gar nicht wahr, dass die Musik so laut ist, dass den Nachbarn die Trommelfelle platzen.
    Nach einer Weile stelle ich die Musik von alleine leiser. Dann lege ich mich aufs Bett und drehe mich auf die Seite. Manchmal ist Anton hier auf dem Bett neben mir eingeschlafen, weil ich damals schon einen eigenen Fernseher in meinem Zimmer hatte. Wenn wir am nächsten Morgen nicht früh aus den Federn mussten, durften wir im Bett liegen und bis zum Einschlafen fernsehen. Wenn Anton müde wurde, schloss er die Augen, drehte den Kopf zur Seite und atmete gegen meinen Hals. Ich erinnere mich noch an den Duft seiner Haare und wie er einen Zipfel meines Nachthemdes festhielt, als wäre es sein Schmusetuch.
    Wenn Silja doch jetzt hier wäre. Zusammen mit ihr war es in meinem Inneren eine Weile ganz ruhig. Ich weiß nicht, wann ich das jemals erlebt habe. Dass alles in mir ganz ruhig und still ist. Wahrscheinlich war es diese Stille, die mich dazu verleitet hat, mit Mama und Papa zu reden. Um das Gefühl mit ihnen zu teilen. Um uns an den Händen zu halten in dieser Stille. Stattdessen habe ich den schlammigen Grund aufgewühlt und allen Dreck und alle Scherben an die Oberfläche gewirbelt.
    Nach einer unendlichen Zeitspanne, die wahrscheinlich nicht länger als eine Viertelstunde ist, klopft Mama an die Tür. Wie gewohnt öffnet sie, ohne meine Antwort abzuwarten, und kommt ins Zimmer.
    »Es gibt Tee und Brote«, sagt sie. »Kommst du?«
    Ich nicke, zu feige, sie anzusehen. Weil ich nicht weiß, ob sie es schon geschafft hat, den Vorhang vor ihre Trauer zu ziehen. Ob ihr Blick wieder normal ist. Als ich kurz darauf in die Küche komme, ist alles beim Alten. Auch Papa ist fast wie immer. Aber er legt die Hand auf meine Schulter, als er sich vorbeugt, um den Brotkorb auf den Tisch zu stellen. Und er drückt meine Schulter leicht, ehe er sie wieder wegnimmt. Wortlos, weil sich manches nicht in Worte fassen lässt. Aber es fühlt sich gut an.
    Als wir nach dem Teetrinken gemeinsam abgeräumt haben, kommt eine SMS von Tonja.
    Bist du noch wach? Kann ich anrufen?
    Ich nehme das schnurlose Telefon mit in mein Zimmer und rufe sie an. Ihre Stimme holt mich zurück in die Wirklichkeit, zieht mich aus dem gnadenlos Unwiederbringlichen.
    »Bist du allein?«, frage ich. »War’s nett?«
    Ich höre Tonjas Atem im Hörer.
    »Ich glaube, ich bin doch ein bisschen verliebt in ihn«, sagt sie hastig. »Er hat mich nach

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