Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
schiebt ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Ich habe auch keine Entschuldigung dafür«, sagt sie, »dass ich eine schlechte Mutter für dich gewesen bin.«
Ich schüttele den Kopf. »Das warst du nicht.«
Mama drückt die Fingerspitzen an die Schläfen und schließt die Augen. Ich stehe in der Tür, betrachte sie und denke an das, was sie gestern gesagt hat, dass sie nie mehr etwas anderes sein kann als die Frau, die ein Kind verloren hat. Die personifizierte Trauer. Und ich begreife, dass sie das auch hier bei uns zu Hause ist, für mich und Papa. Natürlich gibt es einen Alltag, natürlich reden wir miteinander und streiten uns und lachen wie andere Familien auch, aber über Mama hängt immer der Schatten des Geschehenen, auch für uns lebt sie immer unter diesem Schatten. Wenn ich sie sehe, kriege ich ein schlechtes Gewissen, weil ich noch da bin. Ich empfinde es als meine Lebensaufgabe, sie glücklich zu machen, und ich glaube, Papa geht es ähnlich. Damit gehören wir auch zu denen, die sie eingrenzen und für immer in die Trauer sperren.
Aber trägt sie nicht selber auch ihren Teil dazu bei? Oder ist es ungerecht, so zu denken?
Sie öffnet die Augen, steht auf und legt die Decke zusammen.
»Magst du ein Brot?«, fragt sie.
»Ich mach mir selber was«, sage ich. »Bleib ruhig liegen.«
»Nein, nein, es ist schon wieder besser.«
Eigentlich habe ich keinen Hunger, aber ich esse trotzdem ein Käsebrot und trinke ein Glas Milch dazu, ehe ich in mein Zimmer gehe und den Computer anschalte. Die Sonne ist hinter Wolken verschwunden, es sieht aus, als wollte es jeden Moment anfangen zu regnen. Ich bin gerade am Suchen, was für Musik ich hören will, als mein Handy zwei kurze Pieptöne von sich gibt.
Hat Tonja sich beruhigt und will nun doch wieder Kontakt aufnehmen? Ich nehme das Handy und öffne die Mitteilung.
Mir ist langweilig. Und außerdem hab ich noch ein paar Sachen, die dir gehören. Wo wohnst du? Darf ich vorbeikommen?/Sven
Die Zeit steht still, als ich auf das Display starre. Dann hebe ich den Blick und sehe mich um. Hierher? Zu mir? In mein Zimmer? Das Bett ist ungemacht, getragene Slips liegen auf dem Boden verstreut, im Regal stehen noch meine alten Kinderbücher … und sogar My Little Pony, rosa und mit gelber, zerrupfter Plastikmähne!
Und wie sehe ich aus? Ich muss Nein sagen. Alles andere wäre Wahnsinn. Aber Wahnsinn scheint ja gerade meine neue Charaktereigenschaft zu sein. Ich klicke auf Antworten und schreibe:
Korngatan 28, dritter Stock. Aber ich muss noch was erledigen. In einer halben Stunde?
Ich lese die Mitteilung mehrmals durch. Wenn ich sie abschicke, kommt er hierher. Dann ist Sven in einer halben Stunde in meinen vier Wänden. Unfassbar. Ich weiß nicht einmal genau, ob ich das eigentlich will. Bestimmt findet er mein Zimmer kindisch, hässlich, ungemütlich … Warum unternimmt er nichts mit Leo? Oder simst Silja, dass er sie in ihrem schwarz gestrichenen, supercoolen Zimmer besuchen will?
Vielleicht hat Silja aus irgendeinem Grund keine Zeit und Leo hat schon was anderes vor. Und da langweilt Sven sich so sehr, dass er mich fragt? Unmöglich. Er könnte jeden aus der Schule fragen. Warum also ausgerechnet mich? Ich denke schon wieder zu viel. Die Spezialistin für totale Gedankenverknotung meldet sich zum Dienst. So bin ich, ich denke zu viel und handele zu wenig.
Ich schicke die SMS ab und mache mich daran, das schlimmste Chaos in meinem Zimmer zu beseitigen, ein Teil landet auf dem Boden im Schrank. Dann ziehe ich die Decke auf dem Bett zurecht, meinen Pullover aus und einen Push-up an (was erwarte ich eigentlich?), dann das weiße Top, nein, das rote. Eine dünne Bluse darüber? Oder lieber ein langärmeliges Baumwollshirt? Hilfe, gleich ist die halbe Stunde rum! Warum habe ich eine halbe Stunde geschrieben? Die Tapeten sind wirklich hässlich, aber in zehn Minuten kann man nicht neu tapezieren, nicht dran denken. Wenn ich mich beeile, schaffe ich es vielleicht noch, mich ein wenig zu schminken. Also, im Schweinsgalopp ins Bad. Das wäre peinlich, ein Auge fertig, das andere nicht! Schminke abwechselnd links und rechts. Hoffentlich sagt Mama nichts Peinliches! Womöglich hält sie eine Moralpredigt über den Alkoholkonsum auf Festen! Ich muss dafür sorgen, dass ich vor ihr an der Tür bin!
Rotwangig und atemlos stehe ich hinter der Wohnungstür, als ich unten die Haustür höre. Schritte auf der Treppe. Warum nimmt er nicht den Fahrstuhl? Vielleicht ist
Weitere Kostenlose Bücher