Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
das ja der Nachbar von oben. Der nimmt immer die Treppe, wegen der Bewegung. Ich beuge mich vor und gucke durch den Spion in das merkwürdig verzerrte und in die Breite gezogene Treppenhaus. Da kommt er. Es ist nicht der Nachbar von oben. Es ist Sven. Mit Mamas Jacke und der vermissten Sandale in der Hand.
Auch wenn das definitiv uncool ist, öffne ich die Tür, bevor er überhaupt geklingelt hat. Wahrscheinlich in der Hoffnung, ihn in mein Zimmer zu schmuggeln, ehe Mama merkt, dass jemand gekommen ist.
»Hallo«, sagt er lächelnd und hält mir den Schuh und die Jacke entgegen. »Schon vermisst?«
Dieses Lächeln löst einen akuten Blutdruckabfall und feuchte und kalte Handflächen aus. Aber immerhin bringe ich ein »Hallo« heraus und eine verständliche Beschreibung, in welcher Himmelsrichtung mein Zimmer liegt. Das heißt, ich nicke mit dem Kopf und stammele irgendetwas, in dem ein »da« und möglicherweise ein »dort« zu verstehen ist.
Und da steht er jetzt, genau da, wo ich ihn mir vor einer halben Stunde vergeblich versucht habe vorzustellen, leibhaftig. Als sein stahlblauer Blick durch mein Zimmer schweift, sehe ich, dass My Little Pony auf dem Regalbrett verräterische Spuren im Staub hinterlassen hat und dass ich einen Strumpf unter dem Schreibtisch übersehen habe.
»Gemütlich«, sagt er.
Ich kann keinen Hohn und keine Ironie aus seiner Stimme heraushören.
Dann sieht er mich an. »Und, waren deine Eltern sehr sauer?«
Ich muss mich anstrengen, Ordnung in die Worte in meinem Mund zu bekommen, sie in einer begreiflichen, logischen Reihenfolge zusammenzusetzen. »Nein, oder doch, oder … Sie haben sich Sorgen gemacht, als ich nicht nach Hause gekommen bin. Ja.«
Er nickt. »Kann man ja verstehen.«
»Darf ich dir was anbieten?«, frage ich und überlege hektisch, ob ich überhaupt was anzubieten habe und was er eventuell erwartet.
»Nö, ich hab grad gegessen. Es gab Woknudeln mit Garnelen und jeder Menge Knoblauch. Soll ich dich mal anhauchen? Falls du erkältet bist, bist du danach garantiert wieder gesund – wenn du’s überlebst. Aber du magst ja Nils, da magst du vielleicht auch Knoblauchduft?«
Ich lache. »Zumindest habe ich nicht wirklich was dagegen.«
Sven setzt sich auf meinen Schreibtischstuhl und dreht ein paar Runden, ehe er anhält und mich ansieht. »Bist du sicher, dass er rafft, dass du ihn magst?«
»Ich glaube schon.«
»Du glaubst es?«
»Sonst wäre er wirklich dumm.«
»Okay …«
Er scheint darüber nachzudenken. Dann wischt er die blonden Haare aus dem Gesicht und sieht meinen Computer an. »Hast du irgendwelche netten Spiele?«
»Garantiert nichts für deinen Geschmack. Ich spiele nicht so viel.«
Mann, lahmer geht’s wohl nicht! Warum habe ich nicht für Fälle wie diesen ein paar coole Reservespiele runtergeladen? Als Reserve für was? Dass Sven eines Tages bei mir klingelt und fragt, ob ich irgendwelche netten Spiele habe?
»Ich eigentlich auch nicht«, sagt er mitten in mein Gedankenwirrwarr. »Leo und ich spielen manchmal online.«
»An welchen Abenden tanzt du eigentlich?«, frage ich.
Er lächelt, als wäre er überrascht, dass ich mich daran erinnere. Bestimmt hätte er mir niemals davon erzählt, wenn er nüchtern gewesen wäre.
»Dienstags, in der alten Vegaschule. Street, Hip-Hop, Jazz, wir trainieren alles Mögliche. Das macht echt Spaß. Willst du mitmachen?«
Ich schüttele den Kopf. »Aber vielleicht kann ich ja mal zum Zugucken vorbeikommen?«
»Klar. Morgen? Dann können wir hinterher noch ins Miranda gehen.«
Ist das ein Date? Einfach so? Wow. Sven und ich zusammen im Miranda! Wer hängt da am Dienstagabend rum? Albern, jetzt daran zu denken.
»Klar, gerne.«
Da klopft es und Mama schiebt den Kopf zur Tür rein.
»Hab ich doch richtig gehört, dass jemand gekommen ist«, sagt sie. »Hallo.«
Ihre Überschwänglichkeit lässt nach, als ihr klar wird, wer mein Besuch ist, aber Sven steht auf und streckt ihr die Hand hin.
»Hallo.«
Falls Mama vorhatte, eine Moralpredigt, das Fest betreffend, zu halten, bringt Svens Lächeln und die freundliche Begrüßung sie erst einmal aus dem Konzept. Wahrscheinlich hat sie wie die meisten Mütter eine Schwäche für gut erzogene Oberschichtsöhne. Nachdem sie gefragt hat, ob wir irgendwas brauchen, und wir beide verneint haben, zieht sie sich zurück.
Svens Blick bleibt an zwei verstaubten Controllern hängen, die in einem Fach unter dem Computertisch liegen.
»Was ist das?
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