Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
ist es das gar nicht. Zeitmäßig nicht, aber wenn man es an der Erlebnislatte misst, eine Ewigkeit.
»Ich war ziemlich überrascht«, sagt er. »Du hast auf mich nie gewirkt, als wenn dich so was interessiert.«
»Und wie wirke ich auf dich?«, frage ich und würde mich gerne mal mit seinen Augen sehen.
Überhaupt, wie sehen andere mich? Was sieht Tonja? Was sehen Mama und Papa? Was sieht Silja? Was sieht Sven?
Bei Britt sollten wir mal ein schriftliches Selbstporträt schreiben, als wäre es das Porträt von jemand anderem. Ich sollte mir also vorstellen, ich wäre eine andere Person, die Vendela Ek beschreibt. Das war viel schwieriger, als ich dachte. Je mehr Gedanken ich mir darüber machte, desto schwerer fiel es mir, am Ende hab ich fast alles gelöscht, was ich geschrieben habe. Nach einer Stunde hatte ich nicht viel mehr als eine magere Liste über Äußerlichkeiten wie Haarfarbe, Größe und Schuhgröße. Das war kein schönes Gefühl, sozusagen der Beweis dafür, dass ich keine Ahnung habe, wer ich eigentlich bin.
Nils beißt sich auf die Unterlippe und überlegt einen Moment, ehe er antwortet: »Ruhig, smart, ziemlich nett und sehr loyal. Und manchmal etwas unnahbar.«
Er lacht verlegen.
»Versteh mich jetzt nicht falsch«, sagt er. »Aber es nicht ganz leicht, an dich ranzukommen. Als würdest du einen Teil von dir unter Verschluss halten, den du mit niemandem teilen willst.«
»Ist das nicht bei jedem so?«
»Möglich. Aber bei einigen mehr als bei anderen.«
»Du hast feige vergessen. Ich bin der weltgrößte Feigling.«
Nils schüttelt den Kopf. »Das hast du ja wohl gerade bewiesen, dass du das nicht bist! Ich dagegen bin so feige, dass ich mich noch nicht mal traue …«
Wir sind am Fuß der Treppe angelangt, die zum Sprachflur hochführt. Nils bleibt stehen, eine Hand am Geländer, und sieht sich hastig um. Tonja und Lukas sind fast schon oben. Hinter uns kommen schon die nächsten, aber noch sind sie außer Hörweite.
»Sven meinte …«, sagt er verlegen, »… wenn ich mehr als nur befreundet mit dir sein will, sollte ich mich endlich mal zusammenreißen und dir das sagen.«
Ich muss grinsen.
»Und?«, frage ich.
»Und das möchte ich«, sagt Nils. »Aber ich bin in solchen Dingen der absolute Loser.«
»Ich auch.«
»Dann passen wir ja vielleicht ganz gut zusammen?«
»Vielleicht.«
Oskar, Ellen und Madeleine spazieren an uns vorbei und Nils weicht ihnen mit dem Blick aus. Die Gerüchte über die Ereignisse des Vormittags haben offenbar die Runde gemacht, jedenfalls klopft Oskar mir anerkennend auf die Schulter.
»Gut gemacht, Vendela!«, sagt er. »Keiner hätte jemals gedacht, dass ihr es schafft, Emelie festzunageln.«
Ellen und Madeleine lächeln mich anders an als sonst.
»Wir wollen am 18. eine Klassenparty machen«, sagt Ellen. »In Madeleines Ferienhaus. Das ist nicht sonderlich groß, aber wird bestimmt lustig. Kannst du am 18.? Sonst verschieben wir es um eine Woche. Und dann dachten wir … du könntest ja mal Sven fragen, ob er auch kann?«
»Frag ihn doch selber«, sage ich.
»Hab ich schon«, sagt Madeleine. » Mal sehen , hat er gesagt. Kannst du nicht mit ihm reden? Wäre toll, wenn alle kommen.«
Alle, denke ich, bedeutet »alle Wichtigen«. Plötzlich gehöre ich also zu denen. Die Idee, meinetwegen einen Fete-Termin zu verschieben, hat bisher noch niemand gehabt.
Nils’ Gedanken scheinen in die gleiche Richtung zu gehen wie meine. Als Ellen, Madeleine und Oskar an uns vorbei sind und wir hinter ihnen die Stufen hochgehen, stupst er mich mit dem Ellenbogen an.
»Wir wollten doch mit unserer Liste herausfinden, ob sich am Ende der Neunten was verändert hat«, sagt er. »Ich würde sagen, wir müssen sie jetzt schon aktualisieren. Du bist eindeutig in die Kategorie ›die Coolsten in der Klasse‹ aufgestiegen.«
»Ha, ha«, sage ich ironisch. »Wohl eher in die Kategorie ›zeitweises Anhängsel der Coolsten in der Klasse‹.«
»Die Kategorie hatten wir bisher noch nicht, aber das lässt sich ja ändern!«, antwortet Nils lachend.
Als wir in den Sprachflur einbiegen, streift seine Hand meine, und ehe ich für mich beantwortet habe, ob das Absicht oder Zufall war, ist sie wieder da, diesmal eindeutiger, und plötzlich gehen wir Hand in Hand. Ich sehe ihn vorsichtig von der Seite an und er dreht leicht den Kopf, lächelt mich an und umschließt meine Finger. Ich erwidere den Druck, und es fühlt sich ziemlich gut an, wenn auch ungewohnt. Als
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