Ich will meinen Mord
Grundbedürfnisse, männlicher, weiblicher Grundbedürfnisse ein zentrales Thema wäre; Sylvie hätte schon Lust, sich langsam darum zu kümmern, zumal: die Tochter ist endlich groß und aus dem Haus. Unklar ist, warum die heutigen Kinder so lange an ihren Müttern kleben, Sylvie hat halbwegs Gewalt anwenden müssen, um ihre Tochter loszuwerden; wenn es nach der Kleinen gegangen wäre, hätte sie noch in fünf Jahren an ihr geklebt und sich mit ihrem Nagellack die Fingernägel lackiert, ihre Pullover ungefragt angezogen und anschließend nicht gewaschen; immer wenn Sylvie einen Pullover aus dem Schrank nehmen wollte, war er entweder nicht drin, oder er war drin, aber ungewaschen hineingestopft, verqualmt und mit Flecken, den grauen Seide-Angora-Pullover hat sie wegschmeißen können, weil ein Loch reingebrannt war, und als Sylvie ihr den Pullover vorhielt, hat die bloß die schwarz gemalten Augenbrauen über den schwarz umrandeten Kajal-Augen hochgezogen und war für den restlichen Tag beleidigt, eingeschnappt (den Stift hat sie aus dem Spiegelschrank links im Bad, wo er hingehört, aber nie mehr wiedergefunden wurde, weil schließlich Frauen zwischen Dreißig und Vierzig, gegen Vierzig vor allem, sowieso kein Schwarz um die Augen malen sollten, das betont nur die Krähenfüße, findet die Tochter). Am Abend ist sie abgerauscht mit Sylvies Wagen und hat diesen Typ aufgetan, diesen Barbagelata, den ihre Pampigkeit amüsiert hat. Trotzdem wäre sie bei der Mutter wohnen geblieben, aus reiner Bequemlichkeit, wenn Sylvie nicht auf Herausgabe ihres Kajal-Stifts sowie der Autoschlüssel und -papiere und verschiedener anderer Wertsachen bestanden und zudem zum ungezählten Mal von der Tochter ultimativ das Erlernen eines Berufes verlangt hätte, irgendeines Berufs eben, welche zudringliche Forderung die Tochter endgültig davon überzeugt hat, daß ihre Mutter die Wechseljahre ereilt haben, was sie ihr unverzüglich ins Gesicht sagt: Übergeschnappt.
Es wird Sylvie nicht gefallen, wenn sie heute abend ihre Tochter grünlackiert wiederbekommt, aber natürlich fährt die Kleine schnurstracks nach Hause, und dann fängt alles von vorne an: das Herumlungern, schlecht gelaunt; der Kajal ist verschwunden mitsamt den Autopapieren.
Der Inspektor links neben mir wird das Weihnachtsfest wie immer mit seiner Familie verbringen, die aus sage und schreibe zweiundfünfzig Personen besteht, den neun Geschwistern des Inspektors sowie den Eltern und den insgesamt siebenundzwanzig Kindern der zehn Geschwister und –
Ich will es nicht wissen! Bitte nicht!
In der Toilette eine leichte Übelkeit, eine Panik im Magen, infolge des Hungers, infolge der unerträglichen Vorstellung, weitere zweiundfünfzig Personen führen zu müssen, zweiundfünfzig Personen. Demnächst stehen Kommunalwahlen an. Zweiundfünfzig Personen führen zu müssen, das heißt: für vierunddreißig Personen (die achtzehn Minderjährigen abgezogen) nicht nur zu wissen, wo sie das Kreuzchen machen, sondern auch noch warum; eine leichte panische Übelkeit, Durst: Eau non potable, untrinkbares Zugwasser anstatt eines weißen Whiskys, jede einzelne dieser zweiundfünfzig Personen in ein Leben zu stecken ist schriftstellerisch ein Alptraum, dazu eine Obdachlosenziffer, die trotz des Militäreinsatzes von Minute zu Minute steigt; dazu Sylvie, die sich schön bedanken wird, wenn ich ihr die Tochter ausgerechnet heute abend nach Hause schicke, wo sie mit Robert verabredet ist.
Ich sollte mich nicht um die Kommunalwahlen kümmern, sondern meine Verabredung mit Viszman planen, schließlich haben wir das Attentat in Martigues durchzusprechen und neu zu bedenken. Die Kommunalwahlen kommen später. Vielleicht fallen sie sowieso aus, wenn Europa erst von Barbagelata und der Obdachlosenziffer befreit ist.
Es liegt nahe und wäre reizvoll, in Viszmans Wohnung zu konspirieren. Thionville liegt schließlich auf halbem Weg nach Berlin, ich könnte von Dijon telefonisch den Winterfeldtplatz vertagen, was sind Termine anderes als verstümmelte Zeit. Meine Mutter wird das Hühnerfrikassee einfrieren, das sie gekocht hat für heute abend, vielleicht hat sie es auch beim letztenmal schon gekocht und jetzt bloß aus der Tiefkühltruhe genommen, dann soll sie die Nachbarn einladen, auch wenn mein Vater die Nachbarn nicht leiden kann, weil er sie im Verdacht hat, in den Mülltonnen herumzuspionieren, irgend jemand wirft allen Müll unsortiert in eine beliebige Tonne, wenn nicht sogar gezielt
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