Ich will vergelten: Thriller (German Edition)
hätte ich damit gerechnet, dass ihr alter Herr ihr was Besseres besorgt als diese Bude. Dieses Mansion House war schon toll, oder? Ich nehme an, das hier könnte man so verstehen, als mische sie sich unters gemeine Volk.«
»Vielleicht wollte sie ja gar keine bessere Bude.« Daniels öffnete die Tür des einzigen Schranks in einem Zimmer, das nicht größer war als eine Gefängniszelle. Jessicas Kleider hingen von einer Stange, alles perfekt gebügelt, dunkle Farben links bis zu Weiß auf der rechten Seite, und alle Farben dazwischen. »Vielleicht wollte sie einfach nur dazugehören. Normal sein, wie die anderen Studenten.«
»Ja, klar, als wären die anders!«
»Rob Lester gehört nicht zu den feinen Leuten. Und soweit ich das einschätzen kann, ist er ein netter, ruhiger Junge.«
»Ist er das?« Carmichael zeigte auf ein Foto an der Wand.
Daniels nickte.
»Nun, vielleicht ist er ja die Ausnahme …«
»Nehmen Sie es mit. Wir könnten es noch brauchen.«
Carmichael steckte das Foto ein, dann ging sie auf die Knie, um unter das Bett zu gucken. Darunter lag ein Koffer, und sie begann, ihn zu durchsuchen: Erinnerungsstücke hauptsächlich, Fotos, Kinkerlitzchen, Briefe, die überall auf der Welt aufgegeben worden waren, eine gepresste Kette aus Gänseblümchen.
»Es gibt nicht so viele Medizinstudenten aus sozial unterprivilegierten Schichten, ich zumindest habe noch keinen getroffen«, sagte Carmichael. »Auch wenn einem immer das Gegenteil eingeredet wird, gibt es doch immer noch eine Klassentrennung in akademischen Einrichtungen.«
Daniels ignorierte den Kommentar, war zu sehr mit ihrer eigenen Suche beschäftigt. Eine kleine Kommode, jede Schublade voller sauberer Socken und vielfarbiger Unterwäsche, ganz unten Schlafanzüge. Oben auf der Kommode lag ein Vorlesungsplan, ein medizinisches Lehrbuch und ein Ringbuch. Daniels schlug es auf. Jessica hatte all ihre Notizen aus Vorlesungen und Tutorien abgetippt und sorgfältig nach Datum geordnet abgeheftet; das letzte Blatt war vom Montag, dem dritten Mai. Carmichael hatte sich wieder dem Kleiderschrank zugewandt, schob Kleider die Stange entlang und durchsuchte Taschen.
»Erinnern Sie sich an dieses Mädchen vor ein paar Jahren?«, sagte sie. »Die, die immer die besten Noten hatte und sich in Oxford beworben hat? Sie wurde abgelehnt. Ist schließlich nach Amerika gegangen, um zu studieren! Was ist daran fair? Wäre ich ihre Mutter gewesen, hätte ich dazu eine Menge zu sagen gehabt.«
Daniels ging zum Schreibtisch.
Endlich, eine unordentliche Schublade.
»Hören Sie mir zu, Boss? Oder soll ich lieber den Mund halten und weitermachen?«
»Nein, bleiben Sie nur auf Ihrem Rednerpult, Lisa. Ich würde ungern Ihren Stil ändern.« Das war die nette Art zu sagen: Jetzt halt endlich die Klappe.
Daniels lächelte in sich hinein, sie war mehr am Inhalt der Schublade interessiert, die sie vor sich hatte. Sie nahm sie komplett aus dem Schreibtisch und stellte sie aufs Bett. Darin lagen verschiedene Papiere: ein noch ausstehender Termin mit einem Dentalchirurgen, ein Organspendeausweis mit Jessicas Name darauf, detaillierte Informationen der internationalen medizinischen Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen und etwas persönliche Post von Rob Lester – schlüpfriges Zeug, das sie erröten ließ.
Sie blätterte durch Kontoauszüge der Barclays Bank, wobei ihr auffiel, dass Jessica eine monatliche Zahlung von eintausend Pfund von ihrem Vater erhielt, was mehr als großzügig war, nach ihrem Kontostand zu urteilen. Auf dem letzten Auszug gab es mehrere Überweisungen, die sie nicht sofort identifizieren konnte, eine ziemlich große an eine Organisation für Extremsport, ein Dauerauftrag auf ein anderes Konto in Jessicas Namen bei derselben Bank und großzügige Spenden an Ärzte ohne Grenzen.
Soweit sie sehen konnte, gab Jessica Finch nur wenig Geld für sich selbst aus.
Weiter hinten in der Schublade fand Daniels einen ordentlichen Haufen von Geldautomaten-Quittungen, die von einer riesigen Büroklammer zusammengehalten wurden, mit den Daten eines Automaten, von dem sie annahm, dass er sich in der Nähe der Universität befinden könnte. Taschengeld – nicht mehr als ein paar Pfund – genug, um sie ein oder zwei Tage über Wasser zu halten.
Zuletzt eine Quittung über zwanzig Pfund, die kurz nach neun Uhr morgens am Sonntag, dem zweiten Mai, abgehoben worden waren.
Jessica Finch trug offensichtlich ungern größere Mengen Geld mit sich herum. Und sie war
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