Idol
ich bin weder Philosoph noch Theologe; doch nun, da ich nicht mehr laufen kann, habe ich Zeit zum Nachdenken.
Mir scheint, der Mensch bemüht sich mit aller Macht, zu glauben, daß er nach dem Tode weiterlebt. Und doch, wie kann er sich
des Paradieses freuen oder in der Hölle leiden, wenn Körper und Geist nicht mehr sind? Angenommen, ich werde verdammt – wie
soll ich verbrennen, wenn ich keinen Leib mehr habe? Und wie kann ich wissen, daß ich brenne, wenn mein Schädel leer ist?
Das Nichts hinwiederum ist faßbarer: vor unserer Geburt haben wir nicht existiert, warum sollten wir also nach unserem Tod
existieren?
Ich hüte mich wohlweislich, diese Gedanken meinem Kaplan anzuvertrauen. Er ist ein rechtschaffener, ziemlich beschränkter
Mensch. Mit über siebzig Jahren wiederholt er nur, was er mit zehn gelernt hat, und da er es seit sechzig Jahren wiederholt,
ist er mittlerweile überzeugt, es sei wahr.
Ich möchte ihn nicht verunsichern. Ich möchte auch nicht, daß er mir die Absolution verweigert. Und ich will die Menschen
in meiner Umgebung nicht beunruhigen oder belästigen. |420| Vor allem deshalb ist es wichtig, daß ein Sterbender seinen Todeskampf würdig ausficht.
Was das Himmelreich anbelangt, so sind wir im Palazzo Sforza ringsum gut behütet: hinter uns steht ein Kapuzinerkloster, vor
uns, auf der Insel gegenüber, ein Franziskanerkloster. Nachdem ich beiden die erwarteten großzügigen Spenden zukommen ließ,
haben sie mir versichert, sie würden für meine Heilung oder – falls diese nicht gelänge – für mein Seelenheil beten. Wie könnte
ich an der Kraft ihrer Gebete zweifeln?
Der jüdische Arzt hat mir als erster die Wahrheit über meinen Zustand gesagt, eine Wahrheit, die ich seit langem kenne, die
ich aber mit Erfolg verdrängt habe. Er war auch der erste, der ehrlich zu wünschen schien, daß ich überlebe; um so enttäuschter
war er, daß ich die Amputation ablehne.
Einer solchen Operation habe ich auf der Schiffsbrücke mehr als einmal beigewohnt: es ist eine furchtbare Metzelei, die nur
wenige Patienten überleben, und in welchem Zustand! Menschliche Wracks, die ihr ganzes Leben lang unter dem Verlust ihres
Beins leiden. An Krücken schleppen sie sich dahin! Soll ich Vittoria den Anblick meines Verfalls zumuten?
Heute morgen habe ich ihr gesagt, daß ich sterben werde. Bisher hatten wir stillschweigend so getan, als hätte es mit meinem
Zustand nichts Ernstes auf sich. Wir bemühten uns beide nach Kräften, diesen Mythos aufrechtzuerhalten. Ihr gelang das besser
als mir, vielleicht weil sie fester daran glaubte.
Als ich ihr nun die Wahrheit sagte, wurde sie bleich. Sie schwieg, und Tränen flossen über ihre Wangen. Da ich auf dem Bett
lag, streckte sie sich neben mir aus und nahm meine Hand in die ihre. So ruhten wir Seite an Seite, wie zwei liegende Figuren
auf einem Sarkophag. Im selben Augenblick, da ich dies dachte, sagte sie:
»Wir sehen aus wie zwei liegende Figuren auf einem Sarkophag.«
»Das habe ich auch gerade gedacht.«
»Ich wünschte, es wäre tatsächlich so und ich könnte mit dir von hinnen gehen.«
»Selbst dann wären wir getrennt«, sagte ich. »Wie sollten wir uns ohne Augen sehen? Ohne Hände berühren? Ohne Lippen küssen?«
»Wenigstens unsere Seelen wären vereint‹, erwiderte sie.
|421| Ich schwieg, denn ich wollte den Glauben nicht erschüttern, in dem sie Trost fand. Dann fragte ich:
»Was ist deine schönste Erinnerung, Vittoria, seit du in mein Leben getreten bist?«
»An die Zeit davor habe ich keine guten Erinnerungen«, sagte sie ernst. »Und mit dir ist alles so schön gewesen, daß mir die
Wahl schwerfällt.«
Sie schwieg einen Moment, dann drückte sie meine Hand und sagte:
»Vielleicht die Villa Sorghini. Und doch hatte ich schreckliche Gewissensbisse, weil ich zur Ehebrecherin geworden war und
weil ich nicht beichten konnte: beim ersten Wort wäre ich eingesperrt worden. Ich weinte jeden Abend. Aber am nächsten Tag,
wenn ich an unser Wiedersehen dachte, fiel all dies von mir ab, und ich fühlte mich glücklich und leicht. Es kam mir so vor,
als schwebte ich über den Wolken …«
»Auch ich denke oft an die Villa Sorghini. An das weiße Zelt auf der Terrasse! Mitten in Rom und doch der Welt so entrückt!
Durch die weißen Vorhänge sah man die Geranien und durch das Sonnendach über uns die Schatten der Mauersegler. Ich habe noch
im Ohr, wie sich die spitzen Schreie der Vögel mit
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