Ihr liebt sie nicht: Psychothriller (German Edition)
mit Charlie zusammen war. Der vergaß oft, dass er festgebunden war, und tappte los, um Schotter aufzuheben, oder er blieb plötzlich stehen, um einer Wolke zuzusehen – und riss dabei jedes Mal an Stevens Hals.
Während die anderen Kinder zusammen dasaßen oder umherwanderten, strich Steven mit der Hand am Zaun entlang. Er war hoch – vielleicht vier Meter –, und unten war er in einem Betonfundament verankert, so dass man sich nicht darunter hindurchgraben konnte. Das Tor war mit einem großen, rostigen Vorhängeschloss gesichert. Hinter der Wiese stand ein kleines Cottage. Früher war es einmal weiß getüncht gewesen, jetzt jedoch war es vom Alter graugrün verfärbt. Während sie auf der Wiese eingesperrt waren, ging der Huntsman in das Cottage. Manchmal – so wie jetzt – konnte Steven ihn ein kleines Stück vom Fenster entfernt dastehen sehen, mit einem Becher Tee in der Hand, während er sie beobachtete.
Sie ständig beobachtete.
Steven war ein findiger Junge, doch so hartnäckig er auch war, er sah keine Fluchtmöglichkeit – schon gar nicht, wenn Charlie an seinem Hals hing.
Einen Augenblick lang stand er da und beobachtete den Huntsman, der in die Dunkelheit davonschlurfte, wo Steven ihn nicht mehr sehen konnte.
Als Kidnapper machte er nicht viel her.
Aber als Bewacher war er gut.
»Schmetterling!«, johlte Charlie und riss Steven zur Seite.
41
Em konnte nicht fassen, was hier geschah.
Steven war vor ihren Augen verschwunden, und trotzdem bestand ihre Mutter eine Woche lang darauf, dass sie jeden Morgen aufstand und zur Schule ging.
Als wäre der Himmel nicht eingestürzt.
Zuerst weigerte sie sich. Zuerst wollte sie Skip satteln und den Rest des Sommers – den Rest ihres Lebens – damit verbringen, nach Steven zu suchen. Stattdessen wurde von ihr erwartet, ihre Schuluniform anzuziehen, ihre Sandwiches mitzunehmen und ins Auto zu steigen, um wie eine Fünfjährige in die Schule gefahren zu werden.
»Aber ich liebe ihn«, hatte sie zu ihrer Mutter gesagt, die ihren Vater angesehen hatte, der die Augenbrauen hochgezogen hatte. Genau wie damals, als sie gesagt hatte, sie wolle Chemie als Wahlfach und nicht Geschichte. Als glaube er nicht, dass sie zu so etwas fähig sei.
Aber sie hatte eine Eins in Chemie bekommen – und es war dieser Gedanke, der sie dazu brachte, jeden Tag vor der Schule aus dem Range Rover zu steigen, ihrer Mutter zum Abschied zuzuwinken und dann – nachdem sie sich als anwesend registrieren lassen hatte – die Barnstaple Road wieder hinunterzugehen, zu Stevens Haus.
Seine Nan war in einer schrecklichen Verfassung. Wer konnte es ihr verdenken? Der Arzt kam oft und gab ihr Tabletten, zusätzlich zu denen, die sie ohnehin schon für ihr Herz einnahm. Es war ein junger, moderner Arzt, der Chinos, Bootsschuhe und ein blassrosa Ralph-Lauren-Polohemd trug, und seine sonnengebräunte Anwesenheit ließ das Wohnzimmer der Lambs noch schäbiger erscheinen, als es ohnehin schon war. Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis alles wieder einigermaßen gemütlich wirkte, wenn er wieder gegangen war.
Stevens Mutter nahm ebenfalls Tabletten. Sie saß neben Nan auf dem Sofa und weinte bei irgendwelchen Reality- TV -Shows, ein zerknülltes Spiderman-Pyjamaoberteil in den Händen. Einmal – als Lettie es auf dem Sofa liegen ließ, während sie ins Bad ging – hob Em das Oberteil auf und hielt es sich an die Nase. Für sie roch es bloß nach Schlaf, aber sie war ja auch nicht Stevens Mutter.
Zehnmal am Tag legte Nan ihre Hand auf die von Lettie und sagte: »Gott wird sich seiner annehmen.« Und Lettie fluchte und machte eine Tasse Tee, oder sie nickte und brach von Neuem in Tränen aus.
Stevens Onkel Jude kam oft vorbei. Er jätete das Unkraut im Garten und kaufte ein und nahm die ungeöffneten Rechnungen mit, wenn er ging. Er saß auf dem Sofa, den Arm um Lettie gelegt, und küsste Nan auf die Wange, wenn er kam und wenn er ging. Em kam zu dem Schluss, dass er die Sorte Onkel war, die mit deiner Mutter schläft – nicht die Sorte, mit der du blutsverwandt bist.
Davey stand allein auf und machte sich Toast. Er machte seine Hausaufgaben und schmierte sich seine eigenen Sandwiches und verließ leise das Haus – manchmal noch bevor Lettie und Nan auch nur aufgestanden waren. Em begegnete ihm für gewöhnlich, wenn er zur Schule ging, doch wenn sie versuchte zu fragen, ob alles okay sei, wich Davey ihrem Blick aus und schob sich eilig an ihr vorbei. Wenn Shane jetzt herüberkam,
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