Ihr liebt sie nicht: Psychothriller (German Edition)
anderen Seite der Straße vor ihnen aufragte.
»Ihr Haar sieht echt toll aus«, bemerkte Rice.
Reynolds war verblüfft. »Danke.« Verlegen befingerte er seinen Pony.
Rice schoss um eine Haarnadelkurve, dann trat sie das Gaspedal durch und nahm auf einer seltenen Geraden beängstigende Geschwindigkeit auf.
Wir schaffen es, dachte Reynolds, während sich Hoffnung in seinem Herzen breitmachte.
Sie rasten so schnell an einem Rudel Hirsche vorbei, dass diese keine Zeit hatten auseinanderzustieben; die Tiere konnten nur zusammenzucken und dann bebend stehen bleiben. In seinem Seitenspiegel sah Reynolds, wie der Leithirsch ihnen nachsah, die dunkle Nase emporgereckt, das Geweih zornig auf den Rücken gepresst.
Er wünschte, er hätte nicht in den Spiegel geschaut.
Die ersten dicken Regentropfen fielen auf den Beton und ließen heißen Staubgeruch aufsteigen. Noch mehr platschten gemächlich auf die verwitterten Plastikdächer.
Bob Coffin befestigte ein Ende der Paarkette mit einem Vorhängeschloss an Stevens Halsband und reichte ihm das andere Ende. Dann schloss er die Tür des Zwingers nebenan auf und zeigte auf Jonas.
»Mach ihn fest, Junge.«
Langsam ging Steven in Jonas’ Käfig hinüber. Es war seltsam, ihm so nahe zu sein, nach all der Zeit, die sie in getrennten Bereichen verbracht hatten. Das ließ alles heller erscheinen, realer. Jonas lag verdreht auf der Seite, wie ein toter Fuchs in einem Straßengraben. Seine straff gespannte Haut war an einem Dutzend geschwollener, gelb-violett verfärbter Stellen aufgeplatzt, wie ein Brotlaib, wenn der Teig aufgeht. Als Steven auf ihn zukam, hörte Jonas auf, mit der Kette über den Beton zu kratzen, und beobachtete ihn mit einem Auge. Das flache Heben und Senken seiner Rippen war das Einzige, das zeigte, dass er am Leben war.
»Können Sie sich aufsetzen?«
Langsam stützte Jonas die flache Hand auf den Beton, und Steven half ihm, sich hinzusetzen und sich ans Drahtgitter zu lehnen.
Dann kniete er nieder und befestigte das andere Ende der Paarkette an Jonas’ Halsband. Jetzt waren sie aneinandergefesselt.
»Hier.«
Steven sah sich um. Der Huntsman streckte ihm den Schlüssel hin. Mit einem Kopfnicken deutete er auf das Vorhängeschloss, mit dem Jonas am Zaun festgemacht war. Steven fiel auf, dass der Huntsman rasch zurücktrat, als er den Schlüssel nahm; er hatte Angst, Jonas zu nahe zu kommen.
Steven machte Jonas vom Gitter los und half ihm auf die unsicheren Beine.
»Wo gehen wir hin?«, fragte Jonas.
»Auf die Wiese. Legen Sie den Arm auf meine Schultern«, wies Steven ihn an. Jonas tat es, und gemeinsam verließen sie den stinkenden Zwinger. Als sie an dem Huntsman vorbeikamen, streckte dieser die Hand nach dem Schlüssel aus und steckte ihn dann in die Tasche.
Die anderen standen bereits auf dem Weg und warteten auf sie. Pete war mit Jess aneinandergekoppelt und Kylie mit Maisie.
Jonas bestand nur noch aus Haut und Knochen. Das war wohl bei ihnen allen so, dachte Steven, aber die Knochen eines anderen Mannes an seinen eigenen zu spüren, war seltsam traurig.
Der Regen auf den Zwingerdächern wurde lauter, und die Kinder reckten ihre Gesichter dem Himmel entgegen und öffneten die Münder.
»Hopp!«, befahl der Huntsman.
Sie hatten sich wie üblich zur Wiese gewandt, doch der Huntsman breitete die Arme aus und drängte sie in die andere Richtung, auf den großen Schuppen zu.
»Hopp! Hopp!«
Pete und die Mädchen machten Anstalten, sich langsam umzudrehen, Steven jedoch blieb stehen.
»Wo gehen wir hin?«
»Hopp!«, wiederholte der Huntsman.
Steven rührte sich nicht von der Stelle. Das hier fühlte sich nicht richtig an. Routine hatte sie so lange am Leben erhalten, und das hier war nicht Routine. Zuerst war Jonas aus dem Zwinger gelassen worden, und jetzt wurden sie zu dem großen Schuppen geführt anstatt auf die Wiese. Allmählich fühlte Steven sich unwohl. Richtig schlecht war ihm nicht, doch er dachte, dass es ziemlich bald so weit sein würde.
»Wieso gehen wir nicht auf die Wiese?«
»Hopp!«
»Wo gehen wir hin?«, wiederholte Steven beharrlich.
Der Huntsman zögerte kurz und deutete dann mit einer vagen Geste gen Himmel. »Hubschrauber.«
Alle schauten nach oben, doch sie sahen nichts, hörten nichts. Trotzdem begann Maisie laut zu schluchzen, woraufhin Kylie wie ein Zwilling ebenfalls einstimmte.
Die jüngeren Kinder trotteten los und suchten dabei den Himmel mit den Blicken ab. Sogar Jonas verlagerte sein Gewicht, als
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