Ihr liebt sie nicht: Psychothriller (German Edition)
und geweint, als das Wasser um ihre Knöchel sich rosa färbte. Sie hatte sich das getrocknete Blut von den Knien schrubben müssen. Nur ihre Angst, als schwache Frau wahrgenommen zu werden, hatte sie davon abgehalten, sich selbst an einen der Therapeuten der Polizei zu wenden.
Gullivers Anruf mochte also reine Routine sein, doch Rices Logik sagte ihr, dass dem nicht so war.
Erstens war es sechs Uhr abends. Das deutete darauf hin, dass Gulliver auf eine richtige Unterhaltung mit Reynolds aus gewesen war, nicht bloß auf ein schnelles Update zu einem ehemaligen Patienten als Bestandteil ihres Arbeitstages. Sodann hatte Rice die Gereiztheit in Gullivers Stimme bemerkt, als sie sich an Reynolds’ Handy gemeldet hatte. Flüchtig zog sie in Betracht, dass die beiden vielleicht mehr laufen hatten als eine rein professionelle Beziehung, doch das verwarf sie rasch wieder. Reynolds war ein Mann, bei dem sie sich nicht vorstellen konnte, dass er mit irgendjemandem Sex hatte – nicht einmal mit sich selbst. Also war Gullivers Nachfrage mehr als reine Routine. Es war ihr wichtig. Sie wollte wirklich wissen , wie Jonas Holly sich machte. Und das musste bedeuten, dass sie sich nicht hundertprozentig sicher war, dass er gut zurechtkam – auch wenn es ihr Job war, sich dessen zu versichern.
Reynolds kam an, mit einer Halben Thatchers für sie und einem Weißwein.
Rice entschied sich rasch dafür, ihm zu sagen, er solle Gulliver anrufen, und es dabei bewenden zu lassen. Wenn mit Jonas Holly irgendetwas nicht stimmte, würde Reynolds es merken. Er schien Holly aus irgendeinem Grund schon jetzt nicht leiden zu können. Rice kannte diesen Grund nicht, doch sie hatte das Gefühl, dass das nicht ganz fair war. Sie hatte nicht den Wunsch, die irrationale Abneigung ihres Bosses ge gen einen Mann noch anzufachen, der ein Opfer war und nichts als Mitgefühl verdiente.
Aber wenn Jonas’ eigene Therapeutin – diejenige, die ihn diensttauglich geschrieben hatte – sich seinetwegen Sorgen machte, dann, beschloss Rice hier und jetzt, sollte sie sich wohl lieberauch seinetwegen Sorgen machen.
18
Es war fast merkwürdig – wie es auf dem Exmoor so heiß und sonnig bleiben konnte, wenn doch so eine dunkle Wolke darüberhing. Ein Gefühl der Unruhe hing ebenfalls dort, und die Kinder litten am meisten darunter. Diejenigen, die das Moor als ihren persönlichen Spielplatz betrachtet hatten, waren plötzlich in winzige Gärten eingesperrt. Trotz des Prachtsommers vollführten die Eltern eine noch nie dagewesene 180-Grad-Wendung und förderten aktiv Videospiele in abgedunkelten Zimmern.
Kleinkinder in altmodischen Geschirren mit Leinen wurden wieder öfter gesehen, und die, deren Nachwuchs zu alt für die Leine war, beäugten die Geschirre wehmütig. Touristen, die ihre Buchungen nicht stornieren konnten, ohne ihre Anzahlung zu verlieren, rüsteten sich mit Puzzles und Federballschlägern aus, und wenn sie von dem herrlichen Wetter zum Wandern gezwungen wurden, sah man sie auf Rast- und Parkplätzen überall auf dem Moor gleichgültigem Jungvolk strenge Vorträge über die Gefahren des einsamen Herumstreunens halten.
Wenn sie doch einmal in ihre Autos stiegen und sich über die Hügel oder zum Strand wagten, war es durchaus wahrscheinlich, dass sie an Straßensperren der Polizei angehalten wurden, Fragen beantworten mussten und man sie bat, den Kofferraum zu öffnen, damit ihre Liegestühle, der Wind schutz, die Lenkdrachen und die Reserve-Klopapierrollen auf die Straße purzeln konnten – ohne dass dabei auch nur ein einziges vermisstes Kind zum Vorschein kam.
Die Läden hatten ebenfalls zu leiden. Das Exmoor überlebte im Winter und gedieh im Sommer, wenn sich die Einwohnerzahl verfünfzigfachte. Innerhalb von zwei Wochen nach Jess Tooks Entführung begann es den Unterschied zu spüren. Sommerware, die für Touristen und Aktivitäten im Freien gedacht war, verkaufte sich kaum, verschwand aber trotzdem einigermaßen rasch, weil schmollende Kinder, die dazu ver donnert worden waren, ihren Müttern in die Läden zu folgen, anstatt im Auto zu warten, sich mit einer unfassbaren Klau-Orgie rächten. In Dulverton erfreute sich der zwölfjährige James Meldrum kurzfristig großer Beliebtheit, indem er rotzfrech mit einer brandneuen Angelrute für jeden seiner Klassenkameraden aus der Field-&-Stream-Filiale hinausmarschierte, ehe er am nächsten Tag wieder hinging und blöderweise dabei erwischt wurde, wie er sich ein Päckchen Angelhaken für
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