Ihr liebt sie nicht: Psychothriller (German Edition)
dann beim Frühstück Reynolds gegenüber.
»Steven Lamb?«, fragte er, während er zimperlich Finger und Daumen aneinanderrieb, um sie von Krümeln zu befreien.
»Ja«, bestätigte Rice. Reynolds wäre vielleicht sehr viel attraktiver, wenn er sich nicht immer Croissants bestellen würde, dachte sie. Die Dinger waren einfach unmännlich.
»Das ist doch der Junge, der beinahe von Arnold Avery umgebracht worden wäre.«
»Ich dachte mir doch, dass mir der Name bekannt vorkam.«
»Interessant«, sinnierte Reynolds und zog eine Roger- Moore-Augenbraue hoch.
Rice fragte nicht, warum. Genau das wollte Reynolds ja, und sie hasste es, alberne Spielchen zu spielen, innerhalb einer Beziehung und auch sonst. Wenn es wirklich interessant war, dann würde er es ihr zweifellos auch so erzählen. Sein Ego könnte nicht widerstehen.
Es dauerte nur einen Moment …
»Da fragt man sich doch, wie sich das auf ein Kind auswirken könnte.«
»Wie meinen Sie das?«
Reynolds lehnte sich von seinem Croissant zurück – zerpflückt, niemals mit dem Messer aufgeschnitten – und legte die gespreizten Finger unter der Nase aneinander.
Der hält sich wohl für Sherlock Holmes. Rice musste sich den Mund mit Speck vollstopfen, um nicht zu lachen.
»Ich weiß ja nicht«, meinte Reynolds bedächtig, aber in einem Tonfall, der besagte, dass er es sehr wohl wusste – er verriet es bloß nicht.
Rice fand die Tatsache, dass Steven Lamb beinahe ermordet worden wäre, wirklich interessant. Wen würde das nicht interessieren? Jetzt wünschte sie, sie hätte das vorhin gewusst. Im Moment jedoch wäre sie lieber vor Neugierde tot umgefallen, als Reynolds die Genugtuung zu verschaffen, ihn um Informationen zu bitten, mit denen er eigentlich ganz selbstverständlich herausrücken sollte.
Also nahm sie sich eine Scheibe Toast und tunkte damit die Soßenreste ihrer Bohnen auf.
»Vielleicht rufe ich mal Kate Gulliver an«, sagte er spitz. »Und bespreche das mit ihr.«
Ach, halt doch die Klappe, dachte Rice.
32
Am 2. Juni – genau vier Wochen, nachdem Jess Took aus dem Pferdetransporter ihres Vaters entführt worden war – dämmerte Nans Geburtstag früh und strahlend herauf. Die Kühle wich schnell, als die Sonne über den Rand des Hochmoors stieg.
Steven und Davey hatten sich noch immer nicht wieder versöhnt. Steven hatte es ein paarmal versucht, aber Davey war nachtragend, und nach einer Woche voller einsilbiger Antworten und Knurrlaute hatte Lettie verkündet, dass sie auf den Geburtstagsausflug nach Barnstaple nicht mitkommen dürften.
»Die sollten mal einen Krieg durchmachen«, meinte Nan. »Da kämen sie ganz schnell zur Vernunft.« Sie war grundsätzlich der Ansicht, kein Problem sei so groß, dass man es nicht durch ein gemeinsames Kriegserlebnis lösen konnte. Das war ihre Lösung für alles, von Familienkrächen bis zur Inflation. Steven hatte einmal gemeint, die Israelis und die Palästinenser würden doch schon seit Jahren einen Krieg durchmachen und wären anscheinend immer noch nicht besonders vernünftig geworden, und Nan hatte gesagt, er solle ja nicht frech werden.
Steven war ein bisschen enttäuscht über das Wetter. Er hatte seiner Nan nämlich einen Regenschirm gekauft. Das klang voll langweilig, aber der Schirm war so klein und leicht, dass sie ihn in die Manteltasche stecken konnte, von der Handtasche ganz zu schweigen. Und das Beste daran – das Allerbeste – war, dass auf dem Stoff überall alte Familienfotos drauf waren, wenn man den Schirm aufspannte.
Nachdem er die Wahrheit über den Pornokanal akzeptiert hatte, hatte Steven die Freitagabende bei Chantelle Cox zu nutzen gewusst. Er besaß keinen Computer, also benutzte er ihren, scannte alte Fotos und schickte sie per E-Mail an eine Firma, die er online gefunden hatte und die Fotos auf so ziemlich allem abdruckte, wofür er mehr zu bezahlen bereit war als üblich.
Steven hatte sich aus dem Kasten mit den Fotos im Schrank unter der Treppe bedient und ein Dutzend der besten herausgesucht. Sie waren alle alt; er wusste gar nicht mehr, wann das letzte Mal Familienfotos gemacht worden waren oder wer die meisten von diesen hier geschossen hatte. Er und Davey mit Eiswaffeln unter der Seebrücke von Weston. Lettie als junges Mädchen mit hochgesteckten Haaren; sie funkelte richtig. Eine blinzelnde Nan mit Davey in einer Babykarre.
Seit er gekommen war, hatte Steven den Schirm in seinem Zimmer ein Dutzend Mal aufgespannt, um ihn zu bewundern. Bestimmt würde
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