Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
fragte Inga Jäger gegen alle Hoffnung.
» Nein«, antwortete der alte Mann. » Volz hat mich hier hochgeschickt, um Sie zu holen. Wenn ich versuche zu fliehen, tötet er Gunther.«
Inga Jäger schaltete das Funkgerät ein. » Hallo, Herr Volz. Jäger hier. Bitte melden.«
» Ja, Frau Jäger? Was ist?«
» Der Reporter und ich kommen jetzt zu Ihnen. Herr Schneider hat uns das Tor geöffnet. Sie brauchen ihn nicht mehr. Ich schlage vor, er bleibt hier oben in Freiheit. Schließlich haben Sie noch seinen Bruder und dann ja auch uns. Das würde Ihren guten Willen zeigen. Was halten Sie davon?«
» Ein nobler Versuch, Frau Jäger«, antwortete Achim Volz. » Aber nein. Gernot wird Sie wieder zurück zu mir begleiten, oder er hat das Leben seines Bruders auf dem Gewissen. Volz Ende.«
Gernot Schneider nickte resigniert.
» Schon gut«, sagte er zu Inga Jäger. » Ich gehöre an Gunthers Seite. Ich werde ihn in dieser Situation nicht allein lassen.«
» Moment«, schaltete sich Gebert dazwischen, der ihr trotz des Abschieds stumm gefolgt war, als wollte er sie beschützen, solange er konnte. » Sie haben gesagt, er sei unten, also im Keller?«
» Ja«, bestätigte Gernot Schneider.
» Dann kann er nicht sehen, wer das Gebäude oben betritt«, schloss Gebert daraus. » Ich komme mit meinen Leuten mit bis zur Treppe.«
» Das geht nicht«, sagte der alte Mann. » Er hat ein Notebook dabei und überall kleine Kameras angebracht, mit denen er die obere Etage und das Treppenhaus überwacht. Und ich habe die strikte Anordnung, jede Tür, die wir auf dem Weg zurück nach unten durchqueren, hinter mir wieder abzuschließen.«
» Fuck!«, fluchte Gebert und schlug mit der riesigen Faust in die Luft, so als wäre sie das Gesicht von Achim Volz. » Dann sagen Sie mir noch schnell: Wie ist er bewaffnet?«
» Er hat eine Pistole«, sagte Gernot Schneider. » Eine Luger.«
» Sonst noch etwas?«, fragte Gebert. » Ein Messer vielleicht, oder hat er einen Sprengsatz am Körper?«
» Ich habe nichts weiter gesehen. Aber möglich wäre es. Er trägt eine weite Windjacke und die Umhängetasche, in der das Notebook und die Kameras waren.«
» Okay, wir müssen jetzt los«, sagte Inga Jäger. » Ehe er ungeduldig wird und etwas Dummes tut.«
Sie trat durch das Tor auf das ummauerte Gelände.
Max Hoffmann folgte ihr, und Gernot Schneider zog das Tor hinter ihnen ins Schloss.
74
Die Sonne senkte sich bereits den Baumwipfeln entgegen, während Inga Jäger und Max Hoffmann Gernot Schneider zum Eingang des gespenstisch vor ihnen aufragenden Baus begleiteten. Schon von außen konnten sie hören, dass die Patienten im Innern in wilder Aufruhr waren. Doch so richtig erschreckend wurde es erst, als Schneider die Tür öffnete.
Die Eingesperrten rüttelten an den Gittern ihrer Zellen, grölten, brüllten, keiften.
» Lasst uns hier raus!«, schrie einer.
» Rettet uns vor dem Irren!«, ein anderer. » Er hat eine Waffe! Er wird uns alle töten!«
» Oh Himmel, Volz, hören Sie das?«, rief Inga Jäger in das Funkgerät. » Lassen Sie unsere Leute wenigstens die Patienten im Erdgeschoss in Sicherheit bringen.«
» Machen Sie sich um die keine Sorgen«, erwiderte Volz. » Denen wird nichts geschehen. Genauso wenig wie Ihnen, wenn Sie tun, was ich sage. Also gehen Sie weiter und erinnern Sie Schneider daran, die Tür hinter sich zu verriegeln.«
Der alte Mann nickte gehorsam und schloss die Tür von innen ab. » Ich soll Sie außerdem ermahnen, in der Mitte des Ganges zu bleiben.«
Hoffmann, der Reporter, schaute Inga Jäger verständnislos an.
Sie nickte. » Um sicher außerhalb der Reichweite der Patienten zu bleiben.«
Sein selbstbewusstes Lächeln verschwand– und damit auch fast seine Grübchen. » Ist das Ihr Ernst?«
» Absolut«, versicherte sie ihm. » Die Insassen in dieser Station sind die unheilbar Gefährlichen.«
Jetzt wurde er sogar eine Spur blass.
» Keine Angst«, sagte sie. » Wenn wir hintereinander gehen und in der Mitte des Ganges bleiben, geschieht uns nichts. Aber sehen Sie sie nicht an, und reagieren Sie auch nicht auf sie oder was sie sagen. Ich gehe voran, bleiben Sie dicht hinter mir.«
Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit schritt Inga Jäger die Allee der Verlorenen ab.
Sie fühlte sich instinktiv an die Weinbergzeile erinnert, in der Sieglinde Reichard und ihre Schwester, ihre Cousinen und Tanten ermordet worden waren…
…und natürlich an all die Kinder, die hier vor siebzig Jahren
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