Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
des Möglichen, dass dieser Killer gerade vor ihr stand, sie bat, Platz zu nehmen, und ihr einen frisch aufgebrühten Kaffee anbot.
Saskia Lietzmann hatte in Inga Jägers Augen Sieglinde Reichard kein Stück weniger verraten als ihr Mann– und sie hatte dasselbe Motiv: Durch Sieglindes Tod würde Heiko über Nacht zu einem reichen Mann… zu einem reichen, freien Mann… für den sie Muse war und in dessen zukünftigen Erfolg sie sich sonnen konnte, ohne jeden Tag ängstlich weinenden Kindern Blut abnehmen oder ihnen die verstopfte Schnupfnase wischen zu müssen.
» Wo waren Sie gestern Nacht, Frau Lietzmann?«, fragte Inga Jäger scharf, ohne auf den angebotenen Kaffee auch nur einzugehen, obwohl sie gerade große Lust auf einen Kaffee gehabt hätte. Doch Gebert und sie hatten verabredet, bei der Arzthelferin mit vertauschten Rollen vorzugehen wie bei Heiko Reichard. Er sanft– sie hart.
» Ich war zuhause«, antwortete die Sprechstundenhilfe, und Inga Jäger konnte ihre makellos weiß gestrahlten Zähne blitzen sehen. » Heiko war bei mir.«
» Die ganze Nacht?«
» Die ganze Nacht.«
» Gibt es Zeugen?«
Sie überlegte kurz, während sie Gebert mit noch immer zitternden Fingern eine Tasse Kaffee einschenkte. Dann schüttelte sie den Kopf. » Nein. Wir waren allein.«
» Haben Sie ihm dabei geholfen, seine Frau zu ermorden?« Inga Jäger blickte ihr tief in die Augen.
» Er hat seine Frau nicht getötet!«, sagte Saskia Lietzmann, und ihr eben noch eher mattes Gesicht nahm einen kämpferischen Ausdruck an. » Er hat sie geliebt. Das müssen Sie mir glauben!«
» So sehr, dass er sie gegen Sie austauschen wollte«, meinte Inga Jäger zynisch.
» Das verstehen Sie nicht«, erwiderte Saskia Lietzmann. » Das können Sie gar nicht verstehen.«
» Dann erklären Sie es mir trotzdem.«
» Ich denke, das, was Sieglinde von Anfang an am meisten an Heikos Kunst bewundert hat, war seine Kompromisslosigkeit; sein Mut zum Nonkonformismus«, begann Saskia Lietzmann.
» Zum was?«, fragte Gebert.
» Nonkonformismus«, erklärte Inga Jäger, » ist, wenn ein Künstler sich nicht um gängige Trends, Mode oder allgemeingültige Ansichten schert und auch nicht um den Geschmack des Publikums. Wenn er, wie man so schön sagt, sein eigenes Ding macht.«
» Ah«, sagte Gebert und nahm einen Schluck Kaffee.
Saskia Lietzmann fuhr fort: » Sie sagte immer, dass es genau das sei, was ihn zu einem wahren Künstler mache. Und es war ihr, da sie selbst genug Geld besaß, vollkommen egal, dass er damit keinen kommerziellen Erfolg hatte. Im Gegenteil: So hatte sie ihn für sich ganz allein.«
» Ja«, sinnierte Inga Jäger mit herausforderndem Blick. » Musen teilen ungern.«
» Sie war nicht nur seine Muse«, sagte Saskia Lietzmann. » Sie war auch sein einziger Bewunderer, und schließlich malte er nur noch für sie– für ihren Beifall, weil nur sie ihn verstand. Sie ermutigte ihn dazu, seine Werke immer künstlerischer, noch nonkonformistischer zu gestalten. Dabei wurden ihr seine Bilder in Wahrheit immer mehr egal. Was am Ende zählte, war, dass der begnadete und unverstandene, der tragische Künstler exklusiv für sie malte. Ein Teufelskreis, in dem sie beide einander vormachen konnten, wie besonders er doch war… was natürlich wiederum auch sie selbst zu etwas ganz Besonderem machte.«
» Klingt für mich ganz nach einem einvernehmlichen Arrangement«, sagte Gebert.
Inga Jäger schüttelte den Kopf. Sie ahnte, was geschehen war. » Kein Künstler kann auf Dauer ohne Anerkennung existieren«, sagte sie. » Niemand kann das. Aber während den meisten die Bewunderung oder Bestätigung einer einzigen Person genügt, brauchen Künstler ein ganzes sie befürwortendes Publikum, weil sie sonst bei aller Egozentrik immer und ewig im Zweifel darüber bleiben, ob sie wirklich genial und unverstanden sind oder einfach nur unfähig.«
» Ja«, bestätigte Saskia Lietzmann. » Ich habe ihm auf den Kopf zugesagt, dass seine Bilder scheiße sind. Grottenschlecht. Dass sie weder Inhalt noch Ausdruck haben und einfach nicht berühren. Dass sie nicht relevant sind. Und dass es vollkommen unsinnig ist, Bilder zu malen, die niemanden berühren, oder sich in ihnen so auszudrücken, dass niemand es versteht, weil es beim Sichausdrücken doch ums Verstanden-werden-wollen geht und weil die Malerei sonst nichts weiter ist als ein einsames Hobby. Pseudokünstlerische Onanie.«
» Und das hat ihn wachgerüttelt«, vermutete Inga
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