Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
Inga Jäger verwundert. » Nach all dem hier? Wir waren uns doch einig darüber, dass die verschiedenen Opfer nicht von ebenso vielen verschiedenen Tätern ermordet wurden. Und als Einzeltäter kommt er nicht infrage, weil er noch nicht einmal auf der Welt war, als die Mordserie ihren Anfang nahm.«
» Ich weiß«, sagte der Kommissar. » Doch mir kommt gerade ein zugegebenermaßen ziemlich abstruser Gedanke.«
» Welcher denn?«
» Was, wenn es doch sechs verschiedene Täter waren?«
» Wie das?«, fragte Inga Jäger mit einer guten Portion Zweifel in der Stimme.
» Vielleicht ist es eine Art von Geheimbund«, sagte Gebert.
» Geheimbund?«
» Ja, eine dieser mysteriösen Bruderschaften, von denen man immer mal wieder liest. Die über ganze Jahrhunderte hinweg im Verborgenen ihre geheimen Pläne schmieden und ausführen. Falls es so etwas gäbe, könnte es doch durchaus sein, dass die nur alle dreizehn Jahre ein neues Mitglied aufnehmen, und dieses neue Mitglied muss dann in einer Art Aufnahmeritual ein Opfer darbringen, und zwar jedes Mal am 22. September auf dem Eichberg über Eltville.«
» Das klingt ein wenig sehr unwahrscheinlich, finden Sie nicht?«
» Unwahrscheinlicher, als dass ein einziger Täter seit fünfundsechzig Jahren alle dreizehn Jahre einen Mord am gleichen Datum am selben Tatort mit derselben Waffe begeht?«, fragte er zurück.
Inga Jäger musste zugeben, dass er damit einen Punkt hatte.
» Aber selbst wenn es so wäre«, sagte sie, » wäre auch das eher ein Indiz für die Unschuld Reichards und der anderen Ehemänner. Ich meine, was für eine Art von Geheimbund wäre das, dessen Initiation einen direkt für fünfzehn bis zwanzig Jahre hinter Gitter bringt? Wenn es also sechs verschiedene Täter waren, waren das bestimmt nicht die Verurteilten.«
» Wohl wahr«, gab er zu. » Also gut, ich lasse Reichard wieder frei.«
42
Bundeskriminalamt Wiesbaden.
Nachdem die anderen sich an ihre jeweiligen Arbeiten gemacht hatten und sie selbst Rike Wiedemann mit dem Verfassen eines Antrages auf Haftentlassung für Thomas Eser beauftragt hatte, buchte Inga Jäger eine halbe Stunde auf dem Schießstand des BKA .
Schießen war gleich nach Kochen die von ihr am meisten bevorzugte Art zu meditieren, um ihre Gedanken zu ordnen. Und geordnet werden mussten sie. Es waren einfach zu viele, und sie strömten aus zu vielen Richtungen auf sie ein. Außerdem musste sie Dampf ablassen– und dafür war Schießen jederzeit besser geeignet als Kochen. Darüber hinaus sorgten regelmäßige Schießübungen dafür, dass sie in Form für Außeneinsätze blieb.
Verbrechen berührten sie immer, deswegen war sie in ihrem Job so gut, aber dieses ganz besondere Verbrechen, das sich, wie es sich jetzt herausgestellt hatte, schon seit mindestens fünfundsechzig Jahren im Verborgenen gehalten hatte, ohne als solches erkannt worden zu sein, hatte seine blutverschmierten, stählernen Klauen um ihr Herz gelegt und drückte jetzt mit roher und brutaler Gewalt zu.
Was war das für ein Monster, das sechs Mädchen und Frauen hinrichtete und dann auch noch ausgerechnet die dafür büßen ließ, denen es das Liebste genommen hatte?
Und war es wirklich nur ein Monster?
Wie wahrscheinlich war es, dass da draußen ein mindestens achtzig Jahre alter Mörder herumlief?
Wenn es wirklich nur einer war, welches Motiv hatte er?
Weshalb tötete er nur alle dreizehn Jahre?
War der Mord an Sieglinde Reichard dann sein letzter, weil er in weiteren dreizehn Jahren ganz sicher entweder selbst tot war oder definitiv zu schwach, um noch einmal töten zu können?
Und wie sicher konnte sie sein, dass er seinen bisherigen Rhythmus beibehielt und jetzt nicht vielleicht den Takt erhöhte, eben weil er so alt war, und auf einmal jährlich mordete… oder gar monatlich… oder wöchentlich?
Während ihres Jura-Studiums hatte Inga Jäger gelernt, dass Serienmörder zwar nach gewissen Mustern vorgehen, aber nie wirklich so gleich- oder regelmäßig und zuverlässig, wie es im Film und in Büchern gern behauptet wurde. Tatsächlich hatte sie noch nie von einem Fall gehört, in dem sich der Mörder derart starr an einen Terminplan gehalten hatte wie in diesem.
Dennoch würde sie sich nicht darauf verlassen, dass er nicht schon morgen wieder tötete. Und selbst wenn er nie wieder morden würde, musste er für das, was er den Frauen und ihren Ehemännern angetan hatte, bezahlen.
Sie trat an die Ablage des Schießstandes, holte ihre SIG Sauer aus
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