Ihr wahrer Name
mehr persönlich sehen können.
Im Rest des Briefes standen die Namen einiger Onkel und Tanten von Lotty. Er schloß mit: Ich lege Dir eine Fünf-Kronen-Goldmünze von vor dem Krieg bei, um Dir bei der Finanzierung der Reise zu helfen.
Ich blinzelte: Goldmünzen, das klang nach Romantik, Exotik und Reichtum. »Ich dachte, Lotty war arm und konnte sich kaum das Studium und ein Zimmer leisten.«
»Das stimmt. Aber sie hatte eine Handvoll Goldmünzen, die sie mit Hilfe ihres Großvaters aus Wien herausgeschmuggelt hat: Daß sie eine davon mir gab, bedeutete für sie, in jenem Winter die Heizung nicht einschalten zu können und mit Mantel und Strümpfen ins Bett gehen zu müssen. Vielleicht trug das dazu bei, daß sie im nächsten Jahr so krank wurde.«
Beschämt wandte ich mich wieder der eigentlichen Frage zu. »Dann hast du also keine Ahnung, wer in London Lotty um Hilfe gebeten hat?«
Er schüttelte den Kopf. »Es könnte jeder gewesen sein, vielleicht Lotty selbst, die Informationen über Verwandte wollte. Ich habe mich gefragt, ob Radbuka der Name eines ihrer Cousins sein könnte: Sie und Hugo wurden nach England geschickt; die Herschels waren vor dem Anschluß ziemlich wohlhabend gewesen. Sie hatten immer noch Mittel, aber Lotty hat ein- oder zweimal etwas von armen Cousinen erwähnt, die zurückbleiben mußten. Mir ist auch der Gedanke gekommen, daß es jemand gewesen sein könnte, der sich illegal in England aufhielt, jemand, den zu schützen Lotty sich verpflichtet fühlte. Ich hatte keinerlei Hinweise. Doch man reimt sich Dinge zusammen, und das war die Version, die ich mir zurechtgelegt hatte. Vielleicht war es auch die Idee von Teresz. Das weiß ich jetzt nicht mehr. Oder Radbuka war eine Patientin oder Kollegin aus dem Royal Free, die Lotty unter ihre Fittiche genommen hatte.«
»Ich könnte mich mit dem Royal Free in Verbindung setzen und nachfragen, ob es dort noch Listen gibt, die bis ins Jahr 47 zurückreichen«, sagte ich nicht sonderlich überzeugt. »Was hast du in Wien herausgefunden? Hast du die Straßen aufgesucht, die Lotty in ihrem Brief nennt?« Max blätterte den Ordner bis fast zum Ende durch, wo er ein billiges Notizbuch aus einer Plastikhülle holte. »Ich habe mir meine Notizen schon angeschaut, aber nicht viel Interessantes darin entdeckt. Der Bauernmarkt, wo meine eigene Familie gelebt hatte, war durch die Bombenangriffe fast völlig zerstört worden. Ich weiß noch, daß ich das ganze Viertel abgegangen bin, das damals die Matze-Insel hieß. Dort hatten sich die osteuropäischen Juden niedergelassen, die Anfang des Jahrhunderts eingewandert waren. Ich habe mit Sicherheit versucht, die Adresse in der Leopoldsgasse zu finden, aber den Anblick der Verwüstung dort nicht ertragen. Deshalb beschränken sich meine Notizen fast vollständig auf die Informationen, die ich von den unterschiedlichen Suchagenturen bekam.« Er schlug das Notizbuch vorsichtig auf, um das brüchige Papier nicht kaputtzumachen. »Schlomo und Judith Radbuka: Am 23. Februar 1941 zusammen mit Edith - ich denke, das könnte der Name sein, den Lotty für >Eva< gehalten hat -, Rachel, Julie und Mara nach Lodz deportiert. Dazu eine Liste mit sieben Kindern, alle zwischen zwei und dreizehn Jahre alt. Danach habe ich nachgeforscht, was im Getto in Lodz passiert ist. In Polen waren die Verhältnisse damals sehr kompliziert. Es stand noch nicht unter kommunistischer Herrschaft; manche Leute haben Hilfe geleistet, aber es kam auch zu schrecklichen Pogromen gegen die Überreste der jüdischen Gemeinde. Es war die gleiche Geschichte der Verwüstung und des Verlusts wie in ganz Europa: In Polen kam ein Fünftel der Bevölkerung im Krieg um. Ich hätte einige Male fast aufgegeben, aber dann bin ich doch noch an ein paar Unterlagen der Gettoverwaltung herangekommen. Die Radbukas waren alle im Juni 1943 ins Todeslager nach Chelmno deportiert worden. Keiner von ihnen hat überlebt.
Von meiner eigenen Familie habe ich einen Cousin in einem Vertriebenenlager aufgespürt. Ich habe versucht, ihn dazu zu überreden, daß er mit mir nach England kommt, aber er war entschlossen, nach Wien zurückzukehren. Dort hat er den Rest seines Lebens verbracht. Damals wußte niemand, was mit den Russen und Osterreich passieren würde, aber am Ende hat sich für meinen Cousin doch alles zum besten gefügt. Allerdings ist er nach dem Krieg zu einem richtigen Einsiedler geworden. Als Kind hatte ich ihn bewundert; er war acht Jahre älter als ich, es
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