Ihr wahrer Name
förmlichen Knicks von ihr verabschiedete. Ich lag weinend im Bett und flehte meine Großmutter an, mir zu verzeihen.
In jenen Tagen konnte ich kaum mit Carl sprechen. Er war ohnehin nicht oft in London. Im Frühjahr fuhr das Orchester zu einem Konzert nach Holland, und den größten Teil des Juni und Juli verbrachte er in Bournemouth und Brighton, wo sein neugegründetes Kammerensemble eine Serie von Promenadenkonzerten gab. Die wenigen gemeinsamen Nächte, die wir in jenem Sommer hatten, endeten damit, daß ich quer durch London von seiner kleinen Wohnung zu meinem Zimmer ging, um seiner Energie und seinem Optimismus zu entfliehen, die ich nicht begriff. Nur im Krankenhaus hatte ich Ruhe vor den quälenden Bildern. Wenn ich die Verbände der eiternden Wunden eines Mannes wechselte oder vorsichtig die Zeitungen auseinanderschnitt, in die eine Mutter aus dem East End ihr krankes Baby eingenäht hatte, war ich in dieser Welt, in London, bei den Leuten, denen ich helfen konnte. Als fünf meiner Studienkollegen im Winter wegen Krankheit ausfielen, arbeitete ich noch mehr, um die Ausfälle auszugleichen. Die Ausbilder mochten mich nicht: Ich war zu ernst, zu fanatisch. Aber sie erkannten mein Geschick bei den Patienten, sogar schon im zweiten Jahr.
Ich glaube, deswegen kam Ciaire auch, um nach mir zu schauen. Sie war anläßlich einer Konferenz über die neu entwickelten Arzneimittel gegen Tuberkulose im Royal Free gewesen. Und hinterher hatte ein Professor, der wußte, daß ich ihren Worten wahrscheinlich mehr Gewicht beimessen würde, sie gebeten, Miss Herschel dazu zu bringen, ein wenig kürzerzutreten und an den sportlichen und kulturellen Aktivitäten ihres Jahrgangs teilzunehmen. Das würde einen ausgeglicheneren Menschen und letztlich auch eine bessere Ärztin aus mir machen. Im normalen Alltag kreuzten sich unsere Wege nicht mehr.
Ciaire lebte noch bei ihrer Mutter, aber ich war bei Cousine Minna ausgezogen. Ciaire absolvierte ihr Abschlußjahr als Medizinalassistentin im St. Anne's in Wembley, was bedeutete, daß sie sich jeden Tag bis in die Abendstunden um Verletzte, die Pflege Frischoperierter sowie die übrigen Stationen kümmern mußte - Frauen, auch Frauen wie Ciaire Tallmadge, wurden damals immer die niedrigsten Tätigkeiten zugewiesen. Als ich den Blick hob und sie plötzlich am anderen Ende des Raumes stehen sah, brach ich zusammen.
Carl hat mir oft vorgeworfen, in Ciaire verliebt gewesen zu sein. Ja, das stimmt, aber nicht so, wie er dachte. Das war nichts Erotisches, sondern die Vernarrtheit eines Kindes in einen angebeteten Erwachsenen. Vermutlich fühlte Ciaire sich geschmeichelt, daß ich ihr alles nachmachte, sogar wie sie im Royal Free anfing, und schenkte mir deshalb ihre Aufmerksamkeit. Aus diesem Grund war es auch später so schmerzhaft für mich, als sie den Kontakt zu mir abbrach. Aber seinerzeit hing unser mangelnder Kontakt noch mit unseren unterschiedlichen Tagesplänen und Wohnorten zusammen.
Dennoch war ich verblüfft, als sie mir eine Woche nach meinem Zusammenbruch in ihrer Anwesenheit schrieb, sie wolle mir das Cottage anbieten. Ich durchquerte London mit dem Zug und dem Bus, um mich mit ihr auf einen Tee zu treffen, und sie erklärte mir, Ted Marmaduke und sein Bruder Wallace hätten das Cottage für ihre Segelausflüge erworben. Nach dem Tod von Wallace in El Alamein hatte Ted keine rechte Freude mehr am Segeln. Und Vanessa haßte Boote; das Land, das echte Land, langweilte sie. Doch Ted wollte das Cottage nicht verkaufen; er gab sogar einem Bauernehepaar aus der Gegend Geld dafür, daß sie den Hof und den Rest des Anwesens einigermaßen in Ordnung hielten. Ciaire sagte, er könne sich vorstellen, wieder hinauszufahren, wenn er und Vanessa Nachwuchs hätten - er dachte an fünf oder sechs Kinder, die seine Liebe zum Sport teilen würden. Da sie jedoch inzwischen zehn Jahre verheiratet waren, ohne daß auch nur ein sportliches blondes Kind aus der Ehe hervorgegangen wäre, hatte ich das Gefühl, daß sich Vanessa auch in dieser Sache durchsetzen würde, doch das war nicht mein Problem. Ich machte mir nicht viel aus Teds und Vanessas Leben.
»Ted hat mich nie leiden können«, sagte ich, als Ciaire mir erklärte, ihr Schwager biete mir das Cottage an, damit ich mich bei gesunder Luft und nahrhaftem Essen erholen konnte. »Warum sollte er mir sein Cottage überlassen? Wäre das nicht einer jener Übergriffe, vor denen er dich immer gewarnt hat?«
Ich hatte mehrmals Teds Kritik
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