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Ihr wahrer Name

Ihr wahrer Name

Titel: Ihr wahrer Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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einzige Stelle im Haus, wo die Fenster ungeschützt sind. Du hast doch ein Bild von dem Typ, oder?«
    In dem Chaos vor Morrells Abfahrt zum Flughafen hatte ich meine Aktentasche mit den Fotos bei ihm vergessen. Ich versprach, sie ein oder zwei Stunden später auf dem Weg in die Stadt vorbeizubringen. Calia schmollte, als ich die Hunde zu mir rief, doch Tim blies wieder seinen Schnurrbart hoch und bellte wie ein Walroß. Da wandte Calia mir und den Hunden den Rücken zu und erklärte Tim, er müsse noch einmal bellen, wenn er einen weiteren Fisch wolle.

Lotty Herschels Geschichte: Quarantäne
    Ich erreichte das Cottage an einem Tag, der so heiß war, daß nicht einmal mehr die Bienen in der Luft summten. Ein Mann, der mit mir im Bus von Seaton Junction gefahren war, trug meinen Koffer für mich die Straße hinauf. Als er mich endlich allein gelassen hatte, allerdings nicht, ohne vorher mindestens acht-oder neunmal gefragt zu haben, ob ich zurechtkommen würde, setzte ich mich erschöpft auf die Schwelle in der Sonne. Mein Pullover war inzwischen so oft geflickt und gestopft, daß er aus mehr Fäden als aus der ursprünglichen Baumwolle bestand. Auch in London war es heiß gewesen; es hatte eine schreckliche Stadthitze geherrscht, und der gelbe Himmel hatte so stark auf den Kopf gedrückt, daß er sich anfühlte wie mit Watte gefüllt. Nachts schwitzte ich so stark, daß Laken und Nachthemd morgens beim Aufstehen immer klatschnaß waren. Ich wußte, daß ich etwas essen mußte, aber durch die Hitze und die Lethargie, die mein körperlicher Zustand bewirkte, fiel es mir schwer, mich zum Essen zu zwingen. Als Ciaire mich untersuchte, erklärte sie mir mit strenger Stimme, daß ich verhungern würde, wenn ich so weitermachte. »Wenn du dir im Krankenhaus eine Infektion einfängst, bringt dich das innerhalb einer Woche um, so, wie du im Moment beisammen bist. Du mußt etwas essen. Und dich ausruhen.«
    Essen und ausruhen. Wenn ich in der Nacht im Bett lag, wurde ich von fiebrigen Alpträumen gequält. Ich sah immer wieder meine Mutter, die wegen ihrer Schwangerschaft und des Hungers zu schwach war, mit Hugo und mir die Treppe hinunterzugehen, als wir Wien verließen. Das Baby starb im Alter von zwei Monaten an Unterernährung. Nadja hatten sie die Kleine genannt, das heißt Hoffnung. Sie wollten nicht ohne Hoffnung sein. Vom Tod des Babys erfuhr ich aus einem Rotkreuzbrief meines Vaters, der mich im März 1940 erreichte. Begrenzt auf die erlaubten fünfundzwanzig Worte, sein letzter Brief. Ich hatte dieses Baby gehaßt, als meine Mutter damals schwanger war, weil es sie mir wegnahm: keine Spiele mehr, keine Lieder mehr, nur ihre Augen, die immer größer wurden. Und jetzt verfolgte mich diese arme kleine Schwester, die ich nie gesehen hatte, und machte mir Vorwürfe wegen der Eifersucht, die ich mit neun Jahren verspürt hatte. Wenn ich nachts in der schwülen Londoner Luft schwitzte, konnte ich ihre schwachen Schreie hören, die vom Hunger immer matter wurden.
    Oder ich erinnerte mich an meine Oma mit ihrem dichten silberblonden Haar, auf das sie so stolz war, daß sie es sich nicht schneiden ließ. In ihrer Wohnung in der Renngasse saß ich abends neben ihr, während ihr Hausmädchen ihr Haar bürstete, das so lang war, daß sie darauf sitzen konnte. Aber jetzt, in meinen Träumen, sah ich sie mit kahlgeschorenem Kopf, wie die Mutter meines Vaters ohne ihre Perücke. Welches Bild quälte mich mehr? Meine Oma, hilflos und mit rasiertem Kopf, oder die Mutter meines Vaters, meine hohe, der ich einen Abschiedskuß verwehrt hatte? Während ich in der Londoner Hitze immer schmaler und schwächer wurde, begann jener letzte Morgen in Wien allmählich die Welt um mich herum zu übertönen.
    Die Cousinen, mit denen ich das Bett geteilt hatte, die nicht mit nach England gefahren, sondern im Bett geblieben waren, die sich geweigert hatten, aufzustehen und mit uns zum Bahnhof zu gehen. Oma und Opa zahlten für Lingerls Kinder, aber nicht für die Töchter der Schwestern meines Vaters, für jene dunklen Mädchen mit den nußförmigen Gesichtern, denen ich so ähnlich sah. Ach, das Geld, Opa hatte kein Geld mehr, nur noch jenen kleinen Goldschatz. Die Münzen, die mir das Medizinstudium finanzierten, hätten meinen Cousinen das Leben retten können. Meine hohe, die die Arme nach mir, der Tochter ihres geliebten Martin, ausstreckte, und ich, auf der der eifersüchtige Blick meiner Oma ruhte, während ich mich lediglich mit einem

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