Ihr wahrer Name
hatte ich nirgends Fingerabdrücke hinterlassen. Hoffentlich war derjenige, der auf Paul geschossen hatte, nicht noch irgendwo in der Nähe gewesen, als ich kam.
Als ich bei Max eintraf, war zu meiner Überraschung nicht nur Michael Loewenthal da, sondern auch Carl Tisov - und Lotty. Ihr war die Anspannung noch immer anzumerken, aber sie und Carl schienen tatsächlich miteinander zu lachen.
Agnes Loewenthal begrüßte mich mit einer überschwenglichen Geste. »Ich weiß, ich sollte mich nicht so offensichtlich darüber freuen, daß jemand im Krankenhaus liegt, aber ich bin trotzdem ganz aus dem Häuschen. Es ist wie Weihnachten und Geburtstag zusammen. Und sogar Michael ist hier, um sich gemeinsam mit uns zu freuen.«
Carl verbeugte sich mit großer Geste vor mir und reichte mir ein Glas Champagner. Alle bis auf Lotty, die nur selten Alkohol anrührt, tranken etwas. »Bist du zusammen mit Michael gekommen?« fragte ich.
Er nickte. »Schließlich ist Max der älteste Freund, den ich habe. Wenn irgend etwas wäre - ein Kind ist auf jeden Fall wichtiger als ein Konzert mehr oder weniger. Sogar Lotty hat sich von ihrer Arbeit losgerissen. Und als wir hier waren, haben wir festgestellt, daß wir uns entspannen können und dieser Wahnsinnige nicht mehr auftauchen wird, jedenfalls nicht, solange die Kleine hier ist.«
Bevor ich etwas sagen konnte, kam Calia ins Wohnzimmer gerannt und brüllte: »Gib mir meinen Ninshubur!« Sofort ging Agnes zu ihr, um ihr zu sagen, sie solle ihre Manieren nicht vergessen. Ich holte den Plüschhund aus meiner Aktentasche. »Dein kleiner Hund hat heute ein großes Abenteuer erlebt. Er hat einem Mann das Leben gerettet und brauchte dringend ein Bad. Deshalb ist er noch ein bißchen feucht.«
Sie riß mir den Hund aus der Hand. »Ich weiß, ich weiß, er ist in den Fluß gesprungen und hat die Prinzessin gerettet. Er ist feucht, weil >Ninshubur, der treue Hund, von Fels zu Fels sprang, ohne auf die Gefahr zu achtem. Hat der böse Mann ihm das Halsband weggenommen? Wo sind seine Hundemarken? Jetzt erkennt Mitch ihn nicht mehr.«
»Ich hab' ihm das Halsband vor seinem Bad abgenommen. Du kriegst es morgen zurück.«
»Du bist böse, Tante Vicory, du hast Ninshuburs Halsband genommen.« Sie rannte mit gesenktem Kopf gegen mein Bein.
»Nein, Tante Vicory ist gut«, widersprach Agnes. »Sie hat sich ganz schön viel Mühe gemacht, deinen kleinen Hund wieder zurückzubekommen. Und jetzt möchte ich, daß du dich bei ihr bedankst.«
Calia schenkte ihr keine Beachtung, sondern sauste im Raum herum wie eine wildgewordene Hummel und rannte gegen Möbel, gegen Michael, gegen mich und schließlich gegen Tim, der mit einem Tablett voller Sandwiches aufgetaucht war. Die Aufregung über das plötzliche Erscheinen ihres Vaters, der eigentlich noch eine ganze Weile weggewesen wäre, sowie über die Ereignisse des Tages hatten dafür gesorgt, daß sie völlig außer Rand und Band geriet. Zumindest brauchte sie keine Erklärung dafür, warum Ninshubur feucht und fleckig war, denn beides paßte perfekt zu ihrer Geschichte vom treuen Hund.
Michael und Agnes ließen ihr den Zirkus ungefähr drei Minuten lang durchgehen, dann marschierten sie mit ihr hinauf ins Kinderzimmer. Als sie weg waren, bat Max mich um eine detaillierte Beschreibung der Ereignisse im Zusammenhang mit dem Angriff auf Paul. Ich erzählte ihm alles, auch, daß Paul Bilder und andere Informationen über ihn und seine Familie in seiner Kammer aufbewahrte.
»Dann weißt du also nicht, wer auf Paul geschossen haben könnte?« fragte Max, als ich fertig war. Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mal, ob der Betreffende hinter den Büchern her war, die ich in der furchtbaren Kammer gefunden habe. Vielleicht haben seine Erzählungen darüber, daß er Dokumente über die Beteiligung seines Vaters bei den Einsatzgruppen hat, dazu geführt, daß ein echter Nazisympathisant bei ihm aufgekreuzt ist. Solche Leute können ja nicht wissen, daß das Wahnvorstellungen sind. Möglicherweise dachten sie, er sei ihnen auf der Spur, und haben deshalb auf ihn geschossen. Und die böse Verführerin Ilse Bullfin hat Paul dazu gebracht, die Tür aufzumachen.« »Wer?« fragte Max sofort.
»Hab' ich dir das nicht erzählt? Ich hab' ihn gefragt, wer auf ihn geschossen hat, und er hat gesagt, eine Frau namens Ilse. Den Familiennamen habe ich leider nicht richtig verstanden. Aber er klang wie >Bullfin<.«
»Könnte es auch >Wölfin< sein?« fragte Max
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