Ihr wahrer Name
herauszufinden.
Er nahm die Seiten, und Carl las über seine Schulter mit. Max schüttelte den Kopf. »Victoria, du darfst nicht vergessen, daß wir im Alter von zehn Jahren das letzte Mal regelmäßig Deutsch gesprochen oder gelesen haben. Diese kryptischen Einträge hier könnten alles mögliche bedeuten.«
»Und was ist mit den Zahlen? Wenn meine junge Historikerin sich nicht täuscht mit ihrer Annahme, daß es um irgendeine jüdische Vereinigung geht, würden die Zahlen sich dann auf etwas Spezielles beziehen?«
Max zog die Schultern hoch. »Die Zahlen sind zu groß, um etwas mit der Familiengröße zu tun zu haben, und zu klein für irgendwelche finanziellen Daten. Außerdem ist kein erkennbares System drin. Kontonummern können es auch nicht sein -vielleicht handelt es sich um Bankfachnummern.«
»Das sind alles nur Mutmaßungen.« Ich knallte die Kopien frustriert auf den Tisch. »Hat Lotty sonst noch was gesagt? Ich meine, außer daß sie ins Büro will. Hat sie durchblicken lassen, daß diese Einträge etwas Besonderes für sie bedeuten? Schließlich kennt sie den Namen Radbuka.« Carl machte ein säuerliches Gesicht. »Ach, sie hat mal wieder einen ihrer theatralischen Anfälle gehabt. Wenn sie so herumkreischt, kommt sie mir auch nicht erwachsener vor als Calia.« Ich runzelte die Stirn. »Weißt du wirklich nicht, wer Sofie Radbuka ist, Carl?« Er sah mich mit einem kühlen Blick an. »Alles, was ich über dieses Thema weiß, habe ich letztes Wochenende gesagt.«
»Selbst wenn Lotty eine Geliebte dieses Namens hatte, was ich nicht glaube - jedenfalls halte ich es für unwahrscheinlich, daß sie ihre Ausbildung unterbrochen hätte, um mit jemandem auf dem Land Zusammensein zu können... Warum würde die Erwähnung dieses Namens Lotty noch nach all den Jahren so nervös machen und quälen?«
»Was in ihrem Kopf vorgeht, ist mir ungefähr so klar wie die Gedanken von Calias kleinem Plüschhund. Als junger Mann habe ich geglaubt, sie zu verstehen, aber dann hat sie mich ohne ein Wort der Erklärung oder des Abschieds verlassen, und dabei waren wir drei Jahre lang ein Liebespaar gewesen.«
In meiner Ohnmacht wandte ich mich Max zu. »Hat sie beim Anblick des Namens in dem Buch irgend etwas gesagt oder ist sie einfach gegangen?«
Max starrte vor sich hin, ohne mich anzusehen. »Sie wollte wissen, ob jemand der Meinung sei, sie müsse bestraft werden, und wenn dem so wäre, ob der Betreffende dann nicht begreife, daß die Selbstfolter die raffinierteste Form der Bestrafung sei, weil sich Opfer und Folterknecht nicht trennen lassen.«
Darauf herrschte so vollständiges Schweigen, daß wir die Wellen des Lake Michigan jenseits des Parks hören konnten. Ich sammelte die Papiere so sorgfältig ein, als handle es sich um höchst zerbrechliche Eier, und erhob mich.
Max folgte mir hinaus zum Wagen. »Victoria, ich kann mir keinen Reim auf Lottys Verhalten machen. So habe ich sie noch nie erlebt, außer vielleicht gleich nach dem Krieg, aber da waren wir alle... nun, die Verluste, die wir erlebt hatten... Sie, ich, Carl, meine geliebte Teresz, wir waren alle am Boden zerstört, und so ist mir Lottys Benehmen in dieser Zeit nicht besonders aufgefallen. Für uns alle sind diese Verluste wie Wunden, die bei schlechtem Wetter schmerzen.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich.
»Ja, aber das ist es gar nicht, was ich dir sagen will. Lotty hat in all den Jahren nie über ihre Verluste gesprochen. Sie hat sich immer voll und ganz auf die Aufgabe konzentriert, die es als nächstes anzupacken galt. Nicht nur heute, wo wir alle mit der Gegenwart beschäftigt sind, sondern wirklich immer.«
Er schlug mit der flachen Hand auf das Dach meines Wagens, um seine Verwirrung und sein Erstaunen über ihr Schweigen abzureagieren. Der Knall kontrastierte unangenehm mit seiner leisen Stimme.
»Gleich nach dem Krieg standen wir alle unter Schock, und manche Leute hatten auch Schuldgefühle wegen der vielen, vielen Toten. Die Menschen - jedenfalls die jüdischen Menschen -haben nicht öffentlich darüber gesprochen. Wir wollten keine Opfer sein und darauf warten, daß ein paar Krumen Mitleid für uns abfielen. Wir Überlebenden trauerten hinter verschlossenen Türen. Aber nicht Lotty. Sie war wie erstarrt; ich glaube, das hat sie in dem Jahr, in dem sie Carl verließ, so krank gemacht. Als sie im nächsten Winter vom Land zurückkehrte, hatte sie diese Forschheit entwickelt, die wir heute noch an ihr kennen. Erschüttert
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