Ihr wahrer Name
Oma das von mir wußte. Sie fragte mich gern über die »Sitten auf der Insel« aus, wenn ich von dort zurückkam, und dann schärfte sie mir ein, daß ich eine Herschel war. Ich sollte immer gerade stehen und etwas aus meinem Leben machen. Und auf keinen Fall das Jiddisch verwenden, das ich auf der Insel gehört hatte, denn das war vulgär, und die Herschels waren nicht vulgär.
Papa ging ungefähr einmal im Monat mit mir zu seinen Eltern. Ich sollte sie zeyde und hohe nennen, das war Jiddisch für Opa und Oma. Wenn ich jetzt an sie denke, schäme ich mich schrecklich dafür, daß ich ihnen nicht die Zuneigung und Achtung geschenkt habe, die sie sich so gewünscht hätten: Papa war ihr einziger Sohn, ich ihr ältestes Enkelkind. Doch selbst zeyde und hohe zu ihnen zu sagen, worum sie mich gebeten hatte, fand ich widerlich. Und auch hohes blonde Perücke über ihren kurzgeschorenen schwarzen Haaren fand ich widerlich.
Ich haßte es, so auszusehen wie Papas Seite der Familie. Meine Mutter war blond und hellhäutig, hatte wunderschöne Locken und ein spitzbübisches Lächeln. Wie du siehst, bin ich dunkelhaarig und alles andere als hübsch. »Mischling« hat meine Cousine Minna mich immer genannt, wenn auch nie vor meinen Großeltern. Oma und Opa haben mich schön gefunden, weil ich die Tochter ihrer geliebten Lingerl war. Erst als ich dann in England bei Minna gelebt habe, bin ich mir häßlich vorgekommen.
Es quält mich, daß ich mich nicht an die Schwestern meines Vaters oder ihre Kinder erinnern kann. Ich habe das Bett mit sechs Cousinen geteilt, und ich kann mich nicht mehr an sie erinnern, nur noch daran, daß ich viel lieber allein in meinem eigenen hübschen weißen Schlafzimmer gewesen wäre. Ich weiß noch, daß ich Oma einen Kuß gab und dabei weinte, aber von hohe habe ich mich nicht einmal verabschiedet.
Du sagst, ich darf nicht vergessen, daß ich damals noch ein Kind war? Tja, vielleicht, aber auch ein Kind hat die Fähigkeit, Menschlichkeit zu zeigen.
Jedes Kind durfte einen kleinen Koffer in den Zug mitnehmen. Oma wollte, daß wir ihre ledernen nahmen, die die Nazis nicht interessiert hatten, als sie ihr Silber und ihren Schmuck stahlen. Aber Opa war praktischer veranlagt und wußte, daß Hugo und ich nicht so aussehen durften, als kämen wir aus einer wohlhabenden Familie. Er hat uns billige Pappkoffer besorgt, die wir Kinder ohnehin leichter tragen konnten.
Am Tag vor unserer Abreise packten Hugo und ich unsere wenigen Habseligkeiten immer wieder ein und aus, weil wir uns nicht entscheiden konnten, was wir zurücklassen sollten. Am Abend brachte Opa das Kleid, das ich im Zug tragen sollte, zu Oma hinaus. Alle außer mir schliefen: Ich lag vor Aufregung hellwach in dem Bett, das ich mit meinen Cousinen teilte. Als Opa hereinkam, beobachtete ich ihn mit fast geschlossenen Augen. Nachdem er auf Zehenspitzen mit meinem Kleid aus dem Zimmer geschlichen war, schlüpfte ich aus dem Bett und folgte ihm zu meiner Großmutter. Oma legte den Finger auf die Lippen, als sie mich sah, und trennte schweigend den Bund des Kleides auf. Dann holte sie vier Goldmünzen aus dem Saum ihres eigenen Rockes und nähte sie in meinen Bund, gleich unter den Knöpfen.
»Die sind deine Sicherheit«, sagte Opa. »Erzähl niemandem davon, nicht Hugo, nicht Papa, wirklich niemandem. Du weißt nie, wann du sie brauchst.« Er und Oma wollten Spannungen in der Familie vermeiden, die sich mit Sicherheit ergeben hätten, wenn die anderen gewußt hätten, daß sie einen kleinen Notgroschen hatten. Wenn die Tanten und Onkel erfuhren, daß Lingerls Kinder vier wertvolle Goldmünzen bekamen -nun, wenn Menschen Angst haben und auf engstem Raum zusammenleben, ist alles möglich.
Dann weiß ich nur noch, daß Papa mich aufweckte und mir eine Tasse von dem dünnen Tee gab, den wir alle immer zum Frühstück tranken. Irgend jemand von den Erwachsenen hatte genug Kondensmilch aufgetrieben, um jedem von uns Kindern fast jeden Morgen einen Eßlöffel davon in den Tee zu tun.
Wenn mir klargewesen wäre, daß ich sie alle nie wiedersehen würde - aber es war so schon schwer genug wegzufahren, in ein fremdes Land, in dem wir nur Cousine Minna kannten. Von Cousine Minna wußten wir, daß sie eine verbitterte Frau war, die den Kindern Angst einjagte, wenn sie mit uns im Sommer drei Wochen Urlaub am Kleinsee machte. Hätte ich begriffen, daß dies ein endgültiger Abschied werden würde, wäre ich nicht in der Lage gewesen, die Abreise und die
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