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Ihr wahrer Name

Ihr wahrer Name

Titel: Ihr wahrer Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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nächsten Jahre zu ertragen.
    Der Zug setzte sich an einem kalten Tag im April in Bewegung, und dichter Regen prasselte vom Himmel, als wir die Leopoldsgasse hinuntergingen, nicht zum Hauptbahnhof, sondern zu einem kleinen Vorortbahnhof, wo wir keine Aufmerksamkeit erregen würden. Papa trug einen langen roten Schal, damit Hugo und ich ihn vom Zug aus leichter sehen konnten. Er war Cafehausgeiger, jedenfalls war er das früher gewesen, und als er uns an einem der Fenster entdeckte, holte er seine Geige heraus und versuchte eine der Zigeunermelodien zu spielen, zu denen er uns Tänze beigebracht hatte. Selbst Hugo merkte, daß seine Hand dabei vor Kummer zitterte, und er rief Papa zu, er solle aufhören, einen solchen Krach zu machen.
    »Ich sehe euch bald wieder«, versicherte Papa uns. »Lottchen, du mußt jemanden auftreiben, der einen fleißigen Arbeiter braucht. Ich kann alles, das darfst du nicht vergessen - kellnern, Holz oder Kohlen schleppen, in einem Hotelorchester spielen.«
    Als der Zug sich in Bewegung setzte, hielt ich Hugo an der Jacke fest, und wir zwei beugten uns wie alle anderen Kinder aus dem Fenster, um zu winken, bis Papas roter Schal in der Ferne verschwunden war.
    Als wir durch Osterreich und Deutschland fuhren, hatten wir genau jene Ängste, über die die Kindertransportkinder berichten: vor den Wachleuten, die uns einschüchtern wollten, vor der Durchsuchung unseres Gepäcks. Wir standen reglos daneben, während sie versuchten, Wertgegenstände zu finden: Jeder von uns durfte nur zehn Mark mitnehmen. Mein Herz klopfte wie wild, aber zum Glück tasteten sie meine Kleidung nicht ab, und so kamen die Goldmünzen sicher zusammen mit mir an. Nach einer ganzen Zeit überquerten wir die Grenze zwischen Deutschland und Holland, und zum erstenmal seit dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich waren wir plötzlich von freundlichen Erwachsenen umgeben, die uns mit Brot und Fleisch und Süßigkeiten überschütteten.
    Von der Überfahrt nach England weiß ich nicht mehr viel. Ich glaube, es herrschte ruhiger Seegang, aber ich war so nervös, daß ich auch ohne hohe Wellen einen flauen Magen bekam. Als wir anlegten, hielten wir in der Menge der Erwachsenen, die gekommen waren, um uns zu empfangen, besorgt nach Minna Ausschau, doch irgendwann waren alle Kinder abgeholt, und wir standen ganz allein auf dem Pier. Schließlich tauchte eine Frau vom Flüchtlingskomitee auf: Minna hatte ihr - allerdings erst am Morgen - gesagt, man solle uns mit dem Zug nach London schicken. Wir verbrachten die Nacht zusammen mit den Kindern, die niemand mitgenommen hatte, in einem Lager in Harwich und fuhren am nächsten Morgen nach London. Als wir am Bahnhof Liverpool Street eintrafen, war alles riesig, und wir klammerten uns aneinander, während die Dampfloks stampften, aus den Lautsprechern unverständliche Wörter dröhnten und die Leute an uns vorbeihasteten. Ich packte Hugos Hand ganz fest.
    Unsere Cousine Minna hatte einen Arbeiter geschickt, um uns abzuholen, der nun aufmerksam unsere Gesichter mit denen auf einem Foto verglich. Er sprach Englisch, das wir überhaupt nicht verstanden, und Jiddisch, das wir nicht sonderlich gut verstanden, aber er war nett, schob uns in ein Taxi, zeigte uns die Houses of Parliament und Big Ben, und gab jedem von uns für den Fall, daß wir nach der langen Reise Hunger hatten, ein Sandwich mit einer merkwürdigen Paste darauf. Erst als wir das schmale alte Haus im Norden Londons erreichten, erfuhren wir, daß Minna nur mich, nicht aber Hugo aufnehmen würde. Der Mann aus der Fabrik setzte uns in ein düsteres Zimmer, wo wir sitzen blieben, ohne uns von der Stelle zu bewegen, weil wir Angst hatten, irgendein Geräusch zu machen oder jemanden zu stören. Nach ziemlich langer Zeit kehrte Minna von der Arbeit zurück, rauschte ins Zimmer und verkündete, daß der Vorarbeiter aus der Handschuhfabrik Hugo in einer Stunde abholen würde.
    »Ein Kind, nicht mehr. Das habe ich Ihrer Hoheit Madame Butterfly mitgeteilt, als sie mich in ihrem Brief angebettelt hat, ihr zu helfen. Vielleicht macht's ihr ja Spaß, mit einem Zigeuner ins Heu zu gehen, aber das bedeutet nicht, daß wir anderen uns dann um ihre Kinder kümmern müssen.«
    Ich versuchte, ihr zu widersprechen, aber sie erklärte mir, sie könne mich auch einfach auf die Straße setzen. »Seid mir lieber dankbar, ihr kleinen Mischlinge. Ich habe einen ganzen Tag gebraucht, den Vorarbeiter zu überreden, daß er Hugo selbst nimmt und

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