Ihr wahrer Name
ihn nicht einfach der Kinderfürsorge überläßt.«
Der Vorarbeiter, ein Mr. Nußbaum, entpuppte sich als guter Pflegevater für Hugo: Er verschaffte ihm sogar viele Jahre später eine Grundlage für sein Geschäft. Aber du kannst dir kaum vorstellen, wie wir uns an jenem Tag fühlten, als er Hugo abholte: Das war das letzte Mal, daß wir ein vertrautes Gesicht unserer Kindheit sahen.
Minna durchsuchte genau wie die Naziwachleute meine Kleidung, weil sie nicht glaubte, daß meine Familie tatsächlich so verarmt war.
Zum Glück war meine Oma schlauer gewesen als die Nazis und als Minna. Die Goldmünzen halfen mir später, mein Medizinstudium zu finanzieren, aber da greife ich vor auf eine Zukunft, an die ich noch längst nicht dachte, als ich um meine Eltern und meinen Bruder weinte.
10
In der Höhle der Gedankenleserin
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mein Kopf schwer von unruhigen Träumen. Ich habe einmal gelesen, daß man von den Menschen, die man verloren hat, achtzehn Monate nach ihrem Tod träumt, wie sie in der Blüte ihres Lebens ausgesehen haben. Auch ich sah meine Mutter in meinen Träumen manchmal, wie sie in meiner Kindheit gewesen war, lebhaft und leidenschaftlich, aber in der vergangenen Nacht hatte sie im Sterben gelegen, benommen vom Morphium, das Gesicht kaum noch zu erkennen, weil die Krankheit es so sehr ausgemergelt hatte. Lotty und meine Mutter sind in meinem Bewußtsein so eng miteinander verbunden, daß Lottys Kummer sich fast zwangsläufig in meinen Schlaf schlich.
Morrell sah mich fragend an, als ich mich aufsetzte. Er war erst nach mir ins Bett gegangen, wo ich mich hin und her gewälzt hatte. Seine bevorstehende Abreise machte ihn nervös und hektisch; wir hatten uns hastig und voller Leidenschaft geliebt, ohne daß es uns sonderlich befriedigt hätte. Hinterher waren wir eingeschlafen, ohne noch miteinander zu reden. Im Morgenlicht zeichnete er nun meine Wangenknochen mit dem Finger nach und fragte mich, ob ich wegen unseres bevorstehenden Abschieds so unruhig geschlafen habe.
Ich lächelte gequält. »Nein, diesmal war mein eigener Kram schuld.« Ich erzählte ihm kurz vom Vortag.
»Warum fahren wir nicht übers Wochenende nach Michigan?« sagte er. »Wir könnten beide eine Verschnaufpause gut vertragen. Am Samstag kannst du ohnehin nicht viel tun, und wenn wir nicht ständig die ganzen Leute um uns haben, können wir uns auch besser aufeinander einstellen. Don ist wirklich wie ein Bruder für mich, aber ihn gerade jetzt hier zu haben, ist einfach ein bißchen viel. Wir kommen rechtzeitig zu Michaels und Carls Konzert am Sonntag wieder zurück.« Ich entspannte mich bei dem Gedanken, und plötzlich hatte ich trotz der unruhigen Nacht neue Energie für den Tag. Nachdem ich nach Hause gefahren war, um rasch die Hunde eine Runde im See schwimmen zu lassen, machte ich mich auf den Weg zu Unblinking Eye im West Loop, dem Kamera- und Videolad en, an den ich mich immer wende, wenn nur das Beste gut genug ist. Dort erklärte ich Maurice Redken, dem Techniker, mit dem ich normalerweise zusammenarbeite, was ich brauchte.
Wir spielten mein Video von dem Interview auf Channel 13 auf einem der Apparate von Unblinking Eye und betrachteten Radbukas Gesicht, als er die Qualen seines Lebens schilderte. Als er sagte: »Meine Miriam, wo ist meine Miriam? Ich will meine Miriam zurück«, ging die Kamera ganz nah heran. Ich hielt das Band an und bat Maurice, dieses Bild sowie ein paar andere Nahaufnahmen für mich als Fotos zu entwickeln. Ich hoffte, daß Rhea Wiell mich Radbuka vorstellen würde, doch wenn sie das nicht tat, würden die Bilder Mary Louise und mir helfen, ihn aufzuspüren.
Maurice versprach mir, sowohl die Fotos als auch die drei Kopien von dem Tape bis zum Abend fertig zu haben. Es war beinahe halb elf, als ich den Laden verließ, also nicht mehr genug Zeit, vor Dons Termin mit Rhea Wiell noch zurück in mein Büro zu fahren, aber immerhin konnte ich die etwa drei Kilometer von Unblinking Eye zum Water Tower zu Fuß gehen, wenn ich nicht trödelte -ich hasse es, die horrenden Parkgebühren der Gold Coast zu zahlen.
Water Tower Place ist ein Einkaufsmekka an der North Michigan Avenue, ein bevorzugter Haltepunkt für Touristenbusse aus kleinen Städten im Mittleren Westen sowie ein Treffpunkt für die Teenager der Gegend. Nachdem ich mich an jungen Mädchen, deren gepiercter Bauchnabel unter dem kurzen T-Shirt zu sehen war, und an Frauen mit teuren Kinderwagen voller
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