Schreibtisch, um besser zu sehen. »Das ist doch nicht Howard Fepples Handschrift, oder?«
»Das da? Es ist so schön, fast wie eine Gravur. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er das geschrieben hat. Außerdem sieht das Papier alt aus.« Es hatte einen Goldrand, und der untere, rechte, unbeschädigte Teil hatte eine Alterspatina. Die Tinte war nicht mehr schwarz, sondern wurde allmählich grün.
»Ich kann die Namen nicht lesen«, sagte Mary Louise. »Das sind doch Namen, oder? Und dahinter Zahlen. Was sind das für Zahlen? Das können keine Daten sein, und Geld ist es wahrscheinlich auch nicht.«
»Doch, es könnten schon Daten sein, wenn sie auf europäische Art geschrieben sind, zuerst der Tag, dann der Monat -meine Mutter hat das immer so gemacht. Wenn das stimmt, dann haben wir hier einen Zeitraum von sechs Wochen, vom 29. Juni bis zum 3. August in einem unbekannten Jahr. Vielleicht können wir die Namen besser lesen, wenn wir sie vergrößern. Legen wir das Blatt auf den Kopierer. Die Wärme trocknet es auch schneller.«
Während Mary Louise sich darum kümmerte, ging ich alle Seiten der Versicherungsberichte in Fepples Tasche durch, weil ich hoffte, noch ein Blatt aus der Kladde zu finden, aber leider war dies das einzige.
21
Belästigung im Park
Mary Louise begann mit der Arbeit an den Akten, die ich aus der Al-Hoffman-Schublade gezogen hatte. Ich wandte mich wieder meinem Computer zu. Die Suche nach Sofie oder Sophie Radbuka hatte ich völlig vergessen, doch das Gerät wartete geduldig mit zwei Treffern auf mich: eine Einladung eines Internethändlers, Artikel über das Radbuka-Interview im Fernsehen zu kaufen, und eine Mailbox für Nachrichten auf der Homepage einer Familien-Such-Organisation.
Fünfzehn Monate zuvor hatte jemand unter dem Namen »Questing Scorpio« eine Anfrage ins Internet gestellt: »Ich suche Informationen über Sofie Radbuka, die in den vierziger Jahren in Großbritannien gelebt hat.«
Unter den eingegangenen Mails befand sich Paul Radbukas Antwort von vor ungefähr zwei Monaten, die mehrere Seiten Text umfaßte. Lieber Questing Scorpio, mit Worten kann ich die Erregung kaum ausdrücken, die ich beim Lesen Ihrer Nachricht empfunden habe. Es war, als hätte jemand ein Licht in einem dunklen Keller eingeschaltet und mir gesagt, daß ich hier bin, daß ich existiere. Ich bin weder ein Narr noch ein Verrückter, sondern ein Mensch, dem man seinen wahren Namen und seine wahre Identität fünfzig Jahre lang vorenthalten hat. Ich wurde am Ende des Zweiten Weltkrieges von einem Mann, der sich als mein Vater ausgab, von England nach Amerika gebracht, doch in Wirklichkeit hatte er während des Krieges die scheußlichsten Greueltaten begangen. Er hat mir und der Welt verschwiegen, daß ich Jude bin, diese Tatsache jedoch genutzt, um sich an den amerikanischen Einwanderungsbehörden vorbeizuschmuggeln. Dann beschrieb er detailliert die Wiedererlangung seiner Erinnerungen mit Hilfe von Rhea Wiell sowie Träume, in denen er Jiddisch sprach, Erinnerungssplitter, in denen seine Mutter ihm ein Schlaflied vorsang, als er noch zu klein war zum Laufen, und Einzelheiten über die Mißhandlungen, die er durch seinen Ziehvater erdulden mußte.
Ich frage mich schon seit langem, warum mein Ziehvater mich in England aufgespürt hat, schloß er, aber wahrscheinlich war es wegen Sofie Radbuka. Vielleicht hat er sie im Konzentrationslager gefoltert. Sie ist mit mir verwandt, möglicherweise sogar meine Mutter oder eine Schwester. Sind Sie ihr Kind? Wir könnten Geschwister sein. Ich sehne mich nach der Familie, die ich nie gekannt habe. Bitte antworten Sie unter
[email protected] . Erzählen Sie mir von Sofie. Wenn sie meine Mutter oder Fante oder vielleicht sogar eine Schwester ist, von deren Existenz ich bisher nichts wußte, muß ich es erfahren.
Es hatte niemand geantwortet, was mich nicht sonderlich überraschte: Pauls Hysterie war so deutlich in dem Text zu spüren, daß ich auch nicht reagiert hätte. Ich versuchte herauszufinden, ob Questing Scorpio eine E-Mail-Adresse hatte, aber ohne Erfolg.
Dann kehrte ich in den Chatroom zurück und formulierte vorsichtig eine Nachricht: Lieber Questing Scorpio, falls Sie Informationen oder Fragen über die Radbuka-Familie haben und diese mit einer neutralen Partei diskutieren wollen, können Sie sich mit der Anwaltskanzlei Carter, Halsey und Weinberg in Verbindung setzen. Dabei handelte es sich um die Kanzlei meines Anwalts Freeman Carter. Ich