Ikone der Freiheit - Aung San Suu Kyi
»Pflichten« des Königs sei es, nicht gegen den Willen des Volkes zu regieren. In der buddhistischen Mythologie finden sich zahlreiche Beispiele von Königen und Machthabern, die das ihnen gewährte Vertrauen durch Brutalität und Korruption verspielten und von ihren Untertanen abgesetzt wurden. »Es ist ein starkes Argument für die Demokratie«, schreibt Aung San Suu Kyi, »dass solche Regierungen, die den Willen der Bevölkerung respektieren, die sich innerhalb eines verbindlichen Rechtssystems bewegen und die für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden können, weitaus stärker in Übereinstimmung mit den buddhistischen Pflichten eines Königs handeln, als ein mit aller Macht ausgestatteter Alleinherrscher oder eine herrschende Klasse, die dem Willen des Volkes kein Gehör schenken muss.«
In einem anderen Abschnitt widmet sie sich der Frage der Menschenwürde. Im Buddhismus dreht es sich im Grunde um die dem Menschen innewohnende Würde. Alle Menschen verfügen über das Potential, das Nirwana zu erreichen, die Wahrheit zu erkennen und durch ihre Handlungen anderen dabei zu helfen, dasselbe zu erlangen. Doch um zu einer solchen Betrachtungsweise des Daseins zu gelangen, muss man das Dasein an sich in Frage stellen, und eben diese kritische Betrachtung widerspricht der Logik der Diktatur vollkommen. Diktaturen verlangen einen Glauben ohne Zweifel. Weiter führt sie aus: »Ein Glaube, der den orthodoxen Tendenzen innerhalb der biblischen Religionen des Westens ähnlicher ist als den eher liberalen Einstellungen des Buddhismus.«
In seinem Buch über Aung San Suu Kyi schreibt Bertil Lintner, dass ihre politische Sichtweise nach dem Hausarrest stärker von Mystizismus und buddhistischem Gedankengut geprägt war als zuvor. Während ihrer Zeit im Ausland handelten ihre Texte häufig von der noch unvollkommenen Modernisierung Burmas und von praktischen politischen Fragen sowie Analysen des Kolonialismus und der Militärdiktatur. Vor ihrer Rückkehr nach Burma ähnelte Suu Kyi daher interessanterweise viel mehr ihrem Vater. Gleich zu Beginn seiner ersten politischen Ansprache als Student hatte er die Bedeutung der Trennung zwischen dem Mönchtum und der Politik hervorgehoben. Und obwohl die nationalistische Bewegung vom Buddhismus beeinflusst war, hielt er auch später im Leben an diesen Prinzipien fest. Nach sechs Jahren im Hausarrest und jeder Menge Zeit für religiöse Studien versuchte Suu Kyi indes aktiv, Politik und Religion miteinander zu verbinden. Ganz bewusst verzichtet sie darauf, den Buddhismus oder irgendeine andere Religion als geschlossenes System zu betrachten, verwendet aber häufig antike buddhistische Ausdrücke oder moralische Empfehlungen, um ihre eigene Philosophie zu erläutern:
metta, karuna, parami, sati, vipassana, nihanna
und so weiter.
Natürlich lässt sich all dies als eine Mystifizierung der politischen und wirtschaftlichen Probleme Burmas deuten. Lintner schreibt, es erinnere an den bhutanischen König Jigme Singye Wangchuck, der das Bruttosozialprodukt als Maßstab für den Fortschritt seines Landes durch ein »Bruttosozialglück« zu ersetzen suchte. Aung San Suu Kyi hatte König Wangchuck in den 1970er Jahren während ihres Aufenthalts in Bhutan kennengelernt; der Zusammenhang liegt also nahe.
Doch Aung San Suu Kyis neuer Fokus auf Religion und geistige Fragen kann auch als Versuch gedeutet werden, Demokratie und Freiheit so darzustellen, dass sie mit der traditionellen burmesischen Sichtweise auf gesellschaftliche Fragen verbunden werden können. Michael Aung-Thwin, der mit Suu Kyi in den 1980er Jahren in Kyoto zusammenarbeitete, hat ihr und der Demokratiebewegung vorgeworfen, eine Art »demokratischen Dschihad« zu betreiben. Demokratie um jeden Preis und gemäß westlichem Vorbild. Seine Kritik erinnert an die Argumentationsweise der Junta. Schon seit dem Militärputsch 1962 haben die Generäle, ähnlich wie viele andere Diktaturen in der Dritten Welt, behauptet, dass die Demokratie ein westlicher Import sei und den kulturellen und religiösen Traditionen des eigenen Landes fremd wäre. Viele Machthaber in Asien sprechen gern von »asiatischen Werten« – häufig ein Vorwand für die Aufrechterhaltung einer totalitären Regierungsform.
Aung San Suu Kyi versucht aufzuzeigen, dass das Streben des Volkes nach Teilhabe an den politischen Entscheidungsprozessen nicht nur zutiefst menschlich, sondern darüber hinaus in einer Tradition verankert ist, die auch in Burma
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