Illusion - das Zeichen der Nacht
zu handeln. Wenn Yadia recht hatte, wenn das Licht dieses ungeheuerliche Wesen aufhielt, was würde dann mit Alex passieren? Sie war nicht sicher, ob sie das wirklich wissen wollte.
Aber Yadia war offenbar bereit, es zu versuchen, und stürzte zum Fenster, entschlossen, die schweren Holzläden zu öffnen, um das Tageslicht hereinzulassen. Doch ehe er dort war, schoss ein Fangarm aus Schatten aus dem Spiegel und warf ihn zu Boden. Voller Entsetzen beobachtete Jana, wie der Schatten sich um den Jungen wand und ihn hin und her schüttelte wie ein winziger Wirbelsturm.
Alex’ Züge im Spiegel hatten sich durch das Eingreifen noch mehr verzerrt, jetzt waren sie völlig entstellt. Das Sirren war noch höher geworden, ein Ton, der kaum mehr zu ertragen war. Und der Sturmwind aus dem Spiegel wurde immer wilder und schwärzer und tobte sich an Yadia aus, der leise stöhnte.
Der Junge war an die Wand gedrückt worden, und als er sich wieder aufgerappelt hatte, wurde er erneut umgeworfen. Diesmal prallten seine Knochen auf die Bodenfliesen, ein Knirschen war zu hören wie von berstendem Holz. Yadia konnte nicht mehr aufstehen.
Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen beobachtete Jana, wie der schwarze Wirbelwind nun auf sie zukam. Gleich würde er sie erfassen. Vielleicht wollte er sie nicht töten, aber diese düstere, unmenschliche Kraft war destruktiv, der Inbegriff der Zerstörung. Und Alex, der Alex, in den sie verliebt war, war zu ihrem Werkzeug geworden.
Sie warf sich auf den Boden und legte schützend beide Arme über den Kopf. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sich geschlagen gab, ohne zu kämpfen. Das hier, was auch immer es war, war zu mächtig, um sich dagegen zu wehren.
Außerdem – wie konnte sie gegen Alex kämpfen?
Um sie herum wurde alles dunkel. Sie hatte den Schatten über sich, er segelte über ihr wie ein riesiger schwarzer Geier. Das Sirren war überall um sie herum, sie kam sich vor, als wäre sie im klebrigen Inneren eines Bienenstocks gefangen. Wie viel Zeit blieb ihr noch? Zehn Sekunden? Fünf?
Doch plötzlich ging die Tür auf und etwas Eisiges, Unsichtbares stürzte in den Raum. Jana drehte den Kopf zu dem hell leuchtenden Ausschnitt. Sie meinte, die durchscheinende Silhouette eines Tieres zu erkennen, das mit langen, geschmeidigen Schritten auf den Spiegel zujagte.
Glas splitterte. Schlagartig lichtete sich die Dunkelheit und der Raum war wieder in das schummrige gelbliche Licht getaucht, das die beiden Lampen an der Decke verbreiteten. Mit zitternden Knien stand Jana auf und näherte sich dem Scherbenhaufen, der mit dem prasselnden Geräusch eines Regenschauers immer noch weiterwuchs. Auf den glitzernden Scherben tanzten Ascheflocken, in denen Schnipsel von verbranntem Papier zu erkennen waren.
Das war alles, was von dem Ungeheuer noch übrig war.
Aber diese grauen Flocken bewegten sich nicht zufällig, sondern ordneten sich zu einem immer deutlicher erkennbaren, langsamen Wirbel, der große Kreise um sie herum beschrieb. In wenigen Sekunden würde die Asche herabregnen und sich an ihre Haut heften. Sie nahm wahr, dass sie diese Flocken anzog wie ein Magnet und dass sich auch etwas in ihr sich unwiderstehlich zu ihnen hingezogen fühlte.
Sie musste verhindern, dass sie darin gefangen wurde, bevor es zu spät war. Ihr fiel ein, was Yadia gesagt hatte. Der Junge, der nach wie vor bewusstlos am Boden lag, war davon überzeugt, das Licht würde dieses Wesen aufhalten.
Während sie zum Fenster rannte und sich mit den Holzläden abmühte, wurde der Wirbel immer schneller und dichter. Sie spürte bereits die brennende Berührung der ersten Ascheflocken. Sie ließen sich nicht mehr von ihrer Haut lösen, blieben dort haften wie unauslöschliche Tattoos.
Endlich bekam sie die Holzriegel auf, die beiden Läden quietschten in den Angeln, als sie sich öffneten. Das warme Licht der Abenddämmerung flutete in den Raum. Beim Anblick der in allen Rottönen glühenden Wolken schossen Jana Tränen in die Augen. Sie wusste, dass keine Finsternis der Welt sich gegen die Schönheit dieses Himmels behaupten konnte.
Ein entsetzliches Geräusch war zu hören, das sie an das Jaulen des Windes in einer Sturmnacht erinnerte. Die Ascheflocken sanken zu Boden, in feinsten Staub verwandelt.
Das war das Ende des Buchs der Schöpfung. Zumindest diese Schlacht hatte das Buch verloren.
Suchend blickte sich Jana in dem Raum um, bis sie fand, wonach sie Ausschau gehalten hatte. Dankbar sah sie
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