Illusion - das Zeichen der Nacht
Aber jeder hat das Recht, über sich hinauszuwachsen, um im Leben voranzukommen, meinen Sie nicht? Wir wollen alle besser werden, nur sind wir meistens nicht bereit, den Preis dafür zu zahlen – denn der Preis ist der Tod, meine Herrschaften.« Bei den letzten Worten ließ er den Blick mit theatralischer Feierlichkeit über die Zuschauerreihen wandern. »Wenn man sich verändern will, muss man sterben, das ist der einzige Weg. Und dazu gehört Mut. Den habe ich – und Sie?« Sein Blick kehrte zu Alex zurück und sogleich war sein Lächeln wie weggewischt. »Sind Sie bereit, für Ihre Wünsche zu sterben, Herr Torres? Oder um noch weiter zu gehen: Sind Sie bereit zu töten?«
Alex war leichenblass geworden und starrte den Magier an, als hätte er gerade einen Schlag in die Magengrube einstecken müssen. Einen Moment lang dachte Jana, er würde etwas erwidern, aber stattdessen ließ er sich auf seinen Platz fallen und senkte den Kopf, während der Magier zufrieden lächelte. Von den Nachbarplätzen warfen mehrere Leute Alex unverhohlene Blicke zu.
Jemand deutete mit dem Finger auf ihn. »Das ist der Mörder. Er wird den Lottospieler umbringen, um ihm das Los zu stehlen. Das wollte der Magier damit sagen.«
Mehrere Leute stimmten ihm zu, aber Alex schien gar nicht auf sie zu achten. Es wirkte, als hätte er eine unsichtbare Wand um sich herum errichtet, und er war in Gedanken versunken, die, nach seiner angespannten, bedrückten Miene zu urteilen, außergewöhnlich düster sein mussten.
»Sie glauben, du wirst diesen Mann umbringen«, flüsterte Jana ihm zu und packte ihn am Arm, um ihn wach zu rütteln. »Du musst dich verteidigen; eine aufgebrachte Menge kann gefährlich werden!«
Alex sah sie an, als nähme er überhaupt nichts wahr. In diesem Moment stieß Armand ein kristallklares Lachen aus, als sei das Ganze nur ein Scherz gewesen. »Die dritte Frage«, sagte er, als er seinen Anfall von Heiterkeit wieder im Griff hatte. »Bitte nur noch eine, das muss genügen. Ich hoffe, Sie verstehen das.«
Der Hinweis war überflüssig, denn niemand schien darauf aus, eine Frage zu stellen. Einzelne Leute zogen sich bereits verärgert die Mäntel an. Der zweite Teil der Vorstellung war ein Fiasko, eine einzige absurde Farce.
In diesem Moment knisterten die Hunderte von Glühbirnen in dem großen Murano-Leuchter an der Decke alle gleichzeitig und erloschen. Auch die beiden Scheinwerfer, die die Bühne erhellten, verabschiedeten sich mit einem Knall. Plötzlich war es stockdunkel.
Jemand schrie und man hörte nervöse Stimmen, Leute, die hinauszukommen versuchten, und andere, die sie beruhigen wollten. Von der Bühne aus bat Armand um Ruhe. »Keine Sorge, meine Herrschaften. Ich bitte Sie, bleiben Sie sitzen. Die Elektriker versuchen, die Störung zu beheben. Die Vorstellung geht gleich weiter.«
Manche Zuschauer schalteten ihre Handys ein, um das Display zum Leuchten zu benutzen, und in den Gängen sah man ein paar Taschenlampen herumgeistern, begleitet vom Geräusch hastiger Schritte. Jana kramte in ihrer Handtasche nach ihrem eigenen Handy, als sie erneut Armands Stimme hörte, die jetzt allerdings überraschend anders klang, belegt und eindringlich.
Bevor das hier vorbei ist, will ich deine Frage beantworten, sagte er, und Jana begriff sofort, dass sie gemeint war und niemand sonst seine Worte hören konnte. Versuch es nicht abzustreiten, ich habe sie so deutlich gehört, als hättest du sie laut gestellt. Ich weiß, ich weiß; sag jetzt nichts …
Jana warf einen Seitenblick auf Alex, der völlig reglos auf seinem Platz saß, ein schwarzer Umriss, der sich schwach gegen die Dunkelheit im Theater abhob. Ob er die Stimme wohl auch gehört hatte? Aber nein, ganz bestimmt nicht. Niemand sonst konnte sie hören, nur sie selbst. Sie entspannte sich und wartete geduldig darauf, dass Armand weitersprach. Ihr war klar, dass er jetzt keine Reaktion von ihr erwartete, sondern nur, dass sie sich auf ihn konzentrierte.
Das Buch, sagte der Magier fast flüsternd und trotzdem konnte Jana ihn so deutlich hören, dass es fast wehtat. Das Buch der Schöpfung. Du willst wissen, wie du es finden kannst, nicht wahr? Nun gut, ich werde es dir sagen. Dazu musst du der Spur folgen, die dir dein Bruder David liefert. Das ist eine gute Spur, eine wichtige Spur … Aber nur unter einer Bedingung. Um das Buch zu finden, musst du dich von deinem Freund trennen. Wenn ihr zusammenbleibt, wenn ihr zusammen nach Hause geht, werdet ihr es
Weitere Kostenlose Bücher