Illusion - das Zeichen der Nacht
zerbrochenen Spiegel zuwenden konnte, erlosch das Feuer in seinen Pupillen. Alex stellte unendlich erleichtert fest, dass er seinen Körper wieder unter Kontrolle hatte, doch als er aufstehen wollte, brannten seine Rückenmuskeln vor Schmerzen. Seine Beine knickten ein wie nasse Pappe.
»Nichts wie weg hier.« David packte seinen Arm und legte ihn sich über die Schultern. »Komm, Alex, jetzt musst du die Zähne zusammenbeißen.«
Alex ließ sich auf die Beine helfen und machte ein paar Schritte. Von Sekunde zu Sekunde wurde das Zusammenspiel seiner Gliedmaßen verlässlicher. Unterdessen stand der Nosferatu genauso reglos und gebeugt da wie am Anfang. Nichts in seinem Gesicht oder seiner Haltung wies darauf hin, dass auch nur noch ein Fünkchen Leben in ihm steckte.
Als sie an der Tür angelangt waren, musste David Alex loslassen, um sie zu öffnen. Alex beobachtete, wie seine blutüberströmte Hand sich mit der Klinke abmühte. Erst nach mehreren Versuchen gab die Tür mit einem leisen Klicken nach und aus der Bibliothek flutete grelles Licht in die Geheimkammer.
David trat über die Schwelle. Als er bereits auf der anderen Seite stand, drehte er sich um. »Brauchst du Hilfe?« Er hatte eine Hand ausgestreckt.
Alex wollte sie gerade ergreifen, als er in seinem Rücken ein leises Geräusch vernahm, wie ein Seufzen. Ein Geräusch, aus dem unmerklich ein fernes Raunen wurde, und bald ließen sich sogar Worte erkennen.
»Nur ich kann dir helfen.« Die Stimme, die da zu ihm sprach, war seine eigene, sie klang sehr tief und weit entfernt, gedämpft durch eine unendliche Distanz in Raum und Zeit. »Nur ich kann verhindern, dass Erik aufwacht …«
David und die Helligkeit, die ihn hinter der Tür erwarteten, waren vergessen. Alex drehte sich wankend um. Der Nosferatu stand noch an derselben Stelle, aber nun waren seine schwarzen Pupillen von einem rötlichen Glimmen belebt.
Alex konnte sich nicht beherrschen. Die Wut verwandelte seine Furcht in Entschlossenheit und mit den wenigen Kräften, die ihm noch blieben, landete er in dem faltigen Gesicht des Ungeheuers einen mächtigen Kinnhaken.
Der Nosferatu kippte um wie eine leblose Puppe. Beim Aufprall auf dem Boden zerstob seine pergamentartige Haut zu einer Staubwolke, von der Alex eingehüllt wurde.
Der Junge schluckte, um den Kloß aufzulösen, der sich in seiner Kehle gebildet hatte.
Soeben hatte er Dajedis Werk zerstört. Und das bedeutete, dass nun niemand mehr diesen verfluchten Text würde lesen können, diese entsetzliche Kopie des Buchs der Schöpfung.
Er wankte zu dem Rechteck aus Licht, das durch die Tür einfiel. Auf der anderen Seite sah er eine Silhouette – David, der auf ihn wartete. Seine Lider brannten wie Feuer. Eigentlich brannte seine Haut überall.
Als wäre er glühendem Ascheregen ausgesetzt gewesen.
Genau in dem Moment, als er über die Schwelle trat, begriff er, was mit ihm los war. Die Haut des Nosferatu war dabei, sich auf seiner eigenen Haut neu zusammenzusetzen, sie zu überziehen und ihn darin einzuschließen.
Er war gefangen. Der Gefangene eines unmenschlichen Willens, in den er nun eingepfercht war wie in eine Zwangsjacke.
Und zugleich spürte er, wie ein Teil seines eigenen Willens in der Geheimkammer zurückblieb, eingebrannt in die unzähligen Scherben des Spiegels.
Er fragte sich, ob es ihm jemals gelingen würde, ihn sich zurückzuholen.
Kapitel 4
A ls seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, zwang sich Alex dazu, sich umzusehen. Sofort erkannte er die Umrisse der Rialtobrücke, die sich in einem riesigen Bogen über den Canal Grande spannte und unter der Dutzende von Gondeln hin- und herfuhren. Er war also wieder in Venedig.
Voller Entsetzen musterte er die Flut von Touristen, die die Läden mit Glasschmuck auf der Brücke belagerten. Früher oder später würden sie ihn entdecken. Oder besser gesagt, sie würden das Ungeheuer entdecken, in das er sich verwandelt hatte, den vertrockneten, mit Tattoos bedeckten Körper des Nosferatu. Er fragte sich, wie sie bei seinem Anblick wohl reagieren würden. Wahrscheinlich würde irgendjemand anfangen zu schreien. Es würde ein großer Aufruhr entstehen, Ausrufe in allen möglichen Sprachen zu hören sein. Irgendwann würde jemand die Polizei rufen.
Alex holte tief Luft. Vielleicht war es besser so. Er wollte sich nicht an diesen Körper gewöhnen, der nicht sein eigener war, sondern nur eine Kruste aus Dunkelheit, unter der er entsetzlich litt. Je eher er daraus
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