Im Auftrag der Liebe
Gründe sind kompliziert. Und auch wenn dieser Artikel etwas anderes behauptet, habe ich auch nicht einfach aus dem Blauen heraus irgendwelche Visionen. Meine Gabe ist stark eingeschränkt.«
»Inwiefern?«
»Ich kann nur verlorene Dinge aufspüren. Leblose Objekte. Keine Menschen. Keine Haustiere. Und es gibt Regeln.« Ich schrie jetzt beinahe. »Der Gegenstand muss der Person, die ihn verloren hat, auch wirklich gehören, und nur der Besitzer kann mich darum bitten, ihn zu finden.«
Er setzte seinen Kaffee ab. »Aber Sie haben doch Max gefunden …«
»Nein. Ich habe das Sweatshirt seines Vaters gefunden.«
»Ah. Deshalb hatten Sie John O’Brien gebeten, an das Sweatshirt zu denken.«
»Genau. Ich spüre die Energie der Gegenstände durch die Handflächen der Menschen. Besser kann ich es nicht erklären. Und ich weiß auch nicht, warum das geschieht. Es passiert einfach so. Ich gebe den Leuten nur äußerst ungern die Hand, weil ich nie weiß, was ich dann sehen werde. Wie letztens, als ich Butch getroffen und seine Autoschlüssel zwischen den Sofakissen gesehen habe.«
»Wow.«
Tränen stiegen mir in die Augen. Das Telefon klingelte. Ich ging dran, ohne groß nachzudenken. Es war ein Reporter vom Globe , der mich um eine Stellungnahme bat.
»Ich habe nichts dazu zu sagen«, erklärte ich und legte auf.
Keine Sekunde später klingelte der Apparat erneut. Ich stöpselte ihn aus. Zweifellos würde ich eine neue Telefonnummer brauchen.
»Lucy?« Em kam aus dem Schlafzimmer. Sie trug jetzt einen hellblauen Pullover und eine graue Hose. Sie hatte sich die Haare mit einem Handtuch trocken gerubbelt, und ihre Locken umrahmten lose und wild ihr Gesicht. Sie riss die blauen Augen auf, als sie mich genauer betrachtete. »Was ist hier los?«
Was sollte ich sagen? Em kannte mich fast mein ganzes Leben lang, und ich hatte so etwas vor ihr geheim gehalten. Würde sie mir das jemals verzeihen? Und Marisol auch?
»Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll«, erwiderte ich sanft, meine Stimme drohte ob all der Emotionen zu versagen.
Sie drehte sich zu Holliday um. »Hat das was mit Ihnen zu tun?«
»Nein, Em. Es geht nicht um ihn. Es geht um mich. Ich … ich …«
»Was denn?«, fragte sie.
Holliday stand auf. »Hier«, sagte er und reichte ihr die Zeitung.
Em sank auf die Couch.
»Die Vertreter der Medien drängen sich schon unten an der Auffahrt«, erklärte der Polizist nach einem Blick aus dem Fenster. »Und über den Rasen kommt vom Haupthaus her eine ältere Dame angelaufen.«
Eine Sekunde später flog die Haustür auf. Dovie rauschte mit weit geöffneten Armen herein. Ich nahm sie nur zu willig in Empfang.
»Ja, ja«, tröstete sie mich und strich mir übers Haar. »Es ist ja alles in Ordnung. Wir stehen das durch.«
»Mum und Dad werden einen Anfall kriegen.«
»Sollen sie doch«, murmelte Dovie.
Em sah endlich von der Zeitung hoch. »Stimmt das hier, Lucy?«
»Vieles davon ist Unsinn«, wiegelte meine Großmutter ab und ließ mich los.
»Aber das meiste stimmt«, musste ich zugeben. Ich erzählte noch einmal, was passiert war, als ich vierzehn war, und dass ich nur verlorene Gegenstände finden konnte. Gegen Ende der Geschichte hatte ich langsam die Nase voll davon, mir die ganze Zeit selbst zuzuhören. »Bist du wütend auf mich?«, fragte ich Em mit einem Kloß im Hals.
»Wütend?«, sagte sie und nahm mich in den Arm. »Wieso sollte ich denn wütend sein?«
»Ich habe es dir nie erzählt. Oder Marisol.«
»Oder sonst irgendwem«, fügte Dovie hinzu und schnappte sich Grendel, der endlich mein warmes Bett verlassen hatte, um herauszufinden, was der ganze Aufruhr zu so früher Stunde sollte.
»Oh, Lucy. Haben wir nicht gestern noch darüber geredet? Wir haben doch alle unsere Geheimnisse. Und deins ist wenigstens richtig cool. Ich habe mich immer gefragt, woher du damals wusstest, wo ich meinen Führerschein wiederfinden würde …«
Ich war so erleichtert, dass ich kein Wort herausbekam.
»Ich habe die Reporter schon gewarnt, wenn sie unbefugt das Grundstück betreten, haben sie eine Anzeige am Hals«, sagte Dovie. »Aber ich fürchte, die werden ihren Posten so schnell nicht wieder verlassen. Die Polizei von Cohasset habe ich auch angerufen – vielleicht können die die Meute ein wenig im Zaum halten.«
Em sah aus dem Fenster. »Da kommt ein Auto die Einfahrt entlang.«
Zwei Türen wurden gleichzeitig zugeschlagen. Ich sah hinaus und stöhnte. Noch schlimmer konnte es wohl nicht
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