Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
von seinem Stift soeben eingeritzt, prangte ein Symbol, das er kürzlich in einer Ecke von Ugarits altem Archiv entdeckt hatte. Er hatte es nicht deuten, sondern nur Vermutungen darüber anstellen können und die Absicht gehabt, nach seiner Rückkehr aus Megiddo weitere Nachforschungen anzustellen. Was ihn aber jetzt verblüffte, war, dass seine Hände wie von selbst dieses alte, vergessene Symbol eingeritzt hatten, ein Symbol, das sich statt aus den reglementierten Dreiecken und Punkten der Keilschrift aus anmutigen Kurven und Kreisen und Linien zusammensetzte.
Er starrte auf das alte Zeichen und wusste auf einmal, was er damit tun musste. Shubat hatte ihm durch das Kriegsgeschehen und das ägyptische Militär aufgezeigt, was nötig war, um die Bruderschaft wirklich zu retten. Nun galt es, alle Kraft daranzusetzen, dieses Ziel zu erreichen. Er musste nach Ugarit.
Am nächsten Morgen war Nobu verschwunden, ebenso wie sein Reisesack und der Kasten mit dem Frisierzubehör. Auch seine Bettrolle lag nicht mehr auf dem Boden. Und David ahnte, dass, wenn er jetzt nach den Pferden schaute, die sie aus Megiddo mitgenommen hatten, das von Nobu nicht an seinem Haltestrick angeschirrt sein würde.
»Shubat beschütze und bewahre dich vor Unheil, alter Freund«, flüsterte er. »Ich bete darum, dass du es zurück nach Ugarit schaffst.«
Die Leichname der ägyptischen Toten wurden auf Schlitten geladen, und die Kolonne marschierte weiter. Als David sich noch einmal umschaute, sah er auf der in der Morgensonne liegenden Ebene Hunderte verstreuter Leichen, über die sich bereits die Geier hermachten, ihnen die Augen aushackten und den Brustkorb ausweideten. Sobald die Ägypter weit genug weg waren, würden vermutlich die Frauen und Kinder, die sich versteckt gehalten hatten, auftauchen und ihre Männer bestatten.
Wie heißt diese Gegend eigentlich?, fragte er sich, als die Kolonne den Weg zu einem Pass einschlug, der, umgeben von orangerot gleißenden Felsen, steil nach oben führte. Wird man sich überhaupt an die gestrige Schlacht erinnern? Und was ist mit den heroischen Kriegern, die jetzt Vögeln und Fliegen als Nahrung dienten, wie lauteten ihre Namen?
Ich werde das, was ich mit angesehen habe, aufschreiben. Wahrheitsgetreu. Ich werde alles, was ich sehe und höre, für kommende Generationen aufzeichnen.
Als der Tross auf dem Gipfel eines Berges haltmachte, der Pass sich verbreiterte und sich ein überwältigender Blick auf den Ozean vor ihnen öffnete – ein blau funkelndes Meer, das sich bis zum Horizont erstreckte –, stockte David der Atem. Der ehrfurchtgebietende Anblick der gewaltigen Weite von Himmel und Meer, der sich da vor ihm ausbreitete, ließ eine Schlacht auf einer namenlosen Ebene klein und unbedeutend erscheinen.
Und jetzt meinte er auch zu ahnen, warum Pharao Thutmosis ihn, Prinz David von Lagasch und Ugarit, hinauf auf diesen Berg, der sich Karmel nannte, mitgenommen hatte.
»Shubat«, stammelte er, als er vom Streitwagen stieg und auf den Rand der Klippe zuging.
Er wusste, dass die wohlhabenden Bürger Ugarits keine Angst vor einer Invasion hatten. Ehe er mit Nobu aufgebrochen war, um Leah zu retten, war die Rede davon gewesen, dass die Reichen ihre Privatschiffe in Ugarits Hafen mit Proviant und Gold beluden. Sollte Ägypten angreifen, würden die Kundschafter entlang der von Süden herführenden Straße rechtzeitig Meldung erstatten und ihnen somit genügend Zeit geben, die dem Untergang geweihte Stadt auf dem Seeweg zu verlassen und die Segel zu setzen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Jetzt aber erkannte David, dass sich die Bürger von Ugarit, ob sie nun reich waren oder nicht, keinesfalls in Sicherheit wiegen konnten. Wie betäubt dachte er daran, dass König Shalaaman und alle Könige im nördlichen Kanaan keine ägyptische Invasion vom Meer aus befürchteten, weil Ägypter bislang selten weiter als den Nil auf- oder abwärts gesegelt waren und es sich bei den Booten, die sich bis zur Küste von Kanaan wagten, um kleine Schiffe gehandelt hatte, die zum friedlichen Handel bestimmt waren.
Denn was im Naturhafen unterhalb der Klippen des Karmelbergs vor Anker lag, war keine Ansammlung von Handelsschiffen: Während Kanaan Verteidigungsmauern zur Handelsstraße hin hochgezogen hatte, hatte Ägypten klammheimlich eine Flotte von Kriegsschiffen zusammengestellt. Und dieser großen Flotte gut ausgerüsteter Schiffe mit Segeln, wie man sie derart riesig auf dem Großen Meer noch nie gesehen
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