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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sarkey
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fragte sich, ob noch andere Cops in der Mall waren, und wenn ja, ob sie auch zu Jack gehörten. Er überlegte, ob Andre wohl einen Plan B hatte, ob Verstärkung im Anmarsch war und ob –
     
    Jack starrte auf ihn hinab, auf ihn und das Geld.
    Tom konnte seine Panik spüren, sie zerrte an ihm wie ein beharrlicher Sog. Zugleich begriff er, dass er dem Sog nicht nachgeben musste. Vielleicht befand er sich im Schockzustand, vielleicht fühlte sich ein Schock genau so an – und wenn es so war, zog er den Schock jederzeit der Panik vor.
    Jack trat einen Schritt auf ihn zu, in seinem blauen Overall, der bis zur Hüfte aufklaffte, und hob langsam die Hand mit der Pistole. Toms Gedanken waren noch immer von der restlichen Welt getrennt. Aus dem Augenwinkel sah er Anna, die wie erstarrt dastand, die Hände vors Gesicht geschlagen, mit Blut zwischen den Fingern.
    Oh mein Gott.
    Der Schleier zerriss, und die Welt stellte sich wieder scharf, wie eine Schallplatte, die auf die richtige Geschwindigkeit beschleunigte. Jetzt war die Panik kein Sog mehr, sondern eine Welle, die mit voller Wucht über ihn hinwegschwappte und ihn fast von den Füßen riss. Anna war verletzt, und Jack näherte sich ihr weiter, und irgendwie, irgendwie musste Tom sie hier rausbekommen.
    Jack zielte mit der Pistole, sein Finger bewegte sich im Abzugsbügel. Ohne nachzudenken, griff Tom die Tasche an den Henkeln, sprang auf und setzte sie aufs Geländer, gut zur Hälfte über dem Abgrund, und ließ sie ein Stückchen in die Tiefe sacken. Er hatte nur zwei Finger in den Schlaufen.
    Unten rannten die Leute hin und her oder strömten zu den Ausgängen, in einem einzigen Chaos aus Schreien und Heulen. Am anderen Ende des Korridors war Andre in den Cop hineingerast wie ein Linebacker beim Football und hatte ihn schlicht umgerissen. Alle brüllten herum, während im Hintergrund noch immer der bescheuerte Popsong mit dem Bye-bye-bye lief, das irgendein verzogenes Jüngelchen seiner Teenie-Braut hinterherrief, ohne dass die beiden auch nur die geringste Ahnung von irgendwas hatten.
    Die Tasche schaukelte auf dem Geländer, drei Stockwerke über dem Untergeschoss mit dem Delikatessenladen. Jack starrte sie an. Blickte Tom in die Augen. Starrte ihn an. »Okay«, sagte er, steckte die Pistole ins Halfter und streckte die Hände in Brusthöhe aus. »Es ist noch nicht zu spät.«
    Am liebsten hätte Tom laut aufgelacht. Stattdessen ließ er einfach die Henkel los.
    »Nein!«, schrie Jack und stürzte vor, riss die Arme nach vorne, reckte die Finger. Für eine halbe Sekunde sah Tom seine aufgerissenen Augen, dann war er schon an ihm vorbei und kümmerte sich nicht mehr um die Tasche.
    Anna hatte einen Schritt auf ihn zugemacht und den linken Arm gesenkt, aber ihr Mund wurde noch immer von ihrer Rechten verdeckt. Blut glänzte auf ihrer Stirn, Blutspritzer auf ihrem Nasenrücken. Das durfte nicht sein, er konnte sie nicht verlieren, nicht jetzt, niemals. »Anna, Liebling, mein Liebling, bist du verletzt?« Wenn ja, war er mit allem fertig, dann würde er einfach … einfach …
    Sie schaute ihn an. Ihre Pupillen waren groß wie schwarze Löcher, ihre Lippen zuckten. »Es ist nur Blut. Ich meine, es ist nicht meins.«
    »Bist du in Ordnung?«
    Sie nickte.
    Gott sei Dank, Gott sei Dank, ich danke dir, Gott, und wenn ich bisher nicht richtig an dich geglaubt habe, jetzt tu ich es. Tom fasste seine Frau an den Schultern und zog sie zum Treppenhaus.
     
    Als Jack auf die Tasche zusprang, hatte er ein merkwürdiges Erlebnis – wie eine Art Zeitsprung, fast ein Déjà-vu. Er fühlte sich in eine Erinnerung zurückversetzt: Bobby stürzt ab, Jack muss ihn retten, sein kleiner Bruder reckt die Arme nach ihm, nach seiner einzigen Hoffnung …
    Das Problem war nur, dass Jack sich beim besten Willen an keinen solchen Moment erinnern konnte. Das war nicht geschehen, wann auch? Trotzdem, als seine Hände abrutschten und die Tasche nach hinten kippte, als er die unerträgliche Anspannung seiner Muskeln, den Luftzug an seinen Wangen spürte, als er seinen Körper anflehte, sich schneller zu bewegen, nur ein kleines bisschen schneller, auch wenn seine Gliedmaßen schon bis zum Anschlag gedehnt waren, als die Tasche weiter und weiter absackte und schließlich abrutschte, als seine Fingerspitzen über die Textur des Stoffes strichen und nach irgendetwas suchten, irgendetwas, einem Henkel, einem Reißverschluss, einer Seitentasche, und besonders als er begriff, dass er es nicht

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