Im Bann der Engel
der Lift in Bewegung.
»Hoffen wir, dass Elenas altes Büro noch nicht besetzt ist«, flüsterte Amenatos.
Marcellus überlegte, dann sagte er: »Nein, es ist noch frei, soviel ich weiß.«
Alles lief wie am Schnürchen. Sie huschten durch den leeren Flur, gelangten auf der rechten Seite in einen weiteren Gang und schlossen aufatmend die Tür von Elenas ehemaligem Büro hinter sich.
»Und jetzt?«, wollte Marcellus wissen.
»Sag mal, hast du geschlafen, als wir uns besprochen haben?«
»Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, ich habe mich um die Verletzung des Geistlichen gekümmert und seine Schwester getröstet.«
»Schön«, knurrte Amenatos. »Wir warten, bis die Leute gegangen sind.« Sie warteten. Während Marcellus eine zunehmend gelangweilte Miene zur Schau trug, wurde Amenatos immer nervöser. Er konnte sich an den Weg zur Fabrik nur diffus erinnern. War er nicht eben noch mit Elena zusammengewesen? Es war ihm, als hätte er eine unbestimmte Zeitspanne einfach so übersprungen. Trug seine Verwandlung Schuld an diesen Aussetzern? Amenatos schielte zu Marcellus, doch dessen Verhalten erweckte nicht den Anschein, er könne etwas mit dem plötzlichen Vergessen zu tun haben.
»Ich will ja nichts sagen«, begann Marcellus nach einer Weile, »aber hier geht niemand. Die arbeiten alle wie besessen.«
Amenatos musste ihm Recht geben. Zwei Mal schon hatten sie sich hinter dem wuchtigen Schreibtisch verschanzt, weil jemand etwas aus dem angrenzenden Büro geholt hatte.
»Gut, kleine Planänderung«, sagte Amenatos. »Wir versuchen unbemerkt zu den Verliesen zu kommen. Wenn wir die Kinder haben, müssen wir uns irgendwie durchschlagen. Der Fahrstuhl ist der einzige Weg hinauf. Es passen drei Kinder und ein Engel hinein. Das bedeutet leider, wir müssen mehrmals fahren.«
»Und was, wenn wir den Kindern lediglich die Tür öffnen und sie sich erst heute Nacht rausschleichen?«
»Unmöglich. Das hieße, sie allein hier zu lassen. Die Gefahr, dass jemand die Türen wieder abschließt, ist zu groß.«
»Schön, auf deine Verantwortung«, sagte Marcellus ergeben. Amenatos rollte mit den Augen. Manchmal ging ihm Marcellus gehörig auf die Nerven.
Amenatos stand schon am Zugang zum Keller, als jemand um die Ecke bog. Blitzschnell schoss sein Arm vor und hielt die Person fest. Der Geruch von Elenas Seife stieg ihm in die Nase. Er entließ sie aus seinem Würgegriff, hielt ihr allerdings vorsichtshalber den Mund zu und bedeutete ihr, leise zu sein.
Erstaunt riss sie die Augen auf. Er nahm die Hand von ihren Lippen. »Ich hatte damit gerechnet, dich aus dem Labor zu holen oder schlimmstenfalls deine Asche aus dem Krematorium zu kratzen«, flüsterte sie aufgeregt.
»Es mag seltsam für dich klingen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich hergekommen bin.«
Ihre Stimme bebte vor Erleichterung. »Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.«
»Tu dir selbst einen Gefallen und geh. Wenn sie dich erwischen, kommst du hier nicht raus«, bat Amenatos.
»Dasselbe gilt für dich, mein Lieber.«
»Marcellus ist auch hier. Er versteckt sich in deinem alten Büro und lenkt zur Not die Aufmerksamkeit auf sich. Wir schaffen das schon.«
»Jetzt bin ich hier und jetzt bleibe ich auch«, sagte Elena stur.
Amenatos bemerkte das kampflustige Funkeln in ihren Augen.
»Bist du wenigstens bewaffnet?«, fragte er seufzend.
»Ich besitze zwei gesunde Beine, die mir beim Wegrennen nützlich sein werden. Außerdem habe ich hier jahrelang gearbeitet. Und ich habe den hier.« Sie öffnete die Hand. Amenatos sah einen großen Schlüssel darin liegen.
Elena schloss die Tür zum Keller auf. Die fahlgrünen Leuchten glommen auf. Amenatos hatte schlechte Erinnerungen an das Untergeschoss. Nachdem er seine Freiwilligkeit zurückgezogen hatte, war Wesley nicht zimperlich mit ihm umgesprungen und die dicke Nadel, die ihm der verrückte Arzt in den Arm gejagt hatte, meinte er jetzt noch zu spüren. Elena indes konnte gar nicht schnell genug unten sein, sie rannte die Stufen herab und öffnete den ersten Raum. Er war leer. Kalt glänzte die Metallpritsche im grünen Schein.
Erst bei der vierten Kammer hatten sie Glück. Verängstigt drängten sich Kinder aneinander. Amenatos zählte acht. Sie sahen krank und verzweifelt aus. Die hohlen Wangen und großen matten Augen waren erschütternd. Elena streckte die Hände aus, um den Kindern zu zeigen, dass sie ihnen nichts Böses wollten. Die Kinder wichen jedoch bis in den hintersten Winkel des
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