Im Bann Der Herzen
wahrer Leidenschaft.
Im Gästezimmer stand ein kleiner Sekretär mit Federhalter, Tinte und Schreibunterlage. Chastity stand auf und setzte sich an den Sekretär. Sie machte sich daran, den Brief des Vermittlungs-Service an Dr. Douglas Farrell aufzusetzen. Er möge sich am nächsten Mittwoch um fünfzehn Uhr beim wöchentlichen Besuchsnachmittag der Ehrenwerten Miss Chastity Duncan, Manchester Square 10, präsentieren. Dort möge er dem Butler seine Karte übergeben und erklären, dass er ein Gespräch mit Lord Buckingham suche.
Chastity lehnte sich auf dem zerbrechlichen Stuhl zurück und tippte sich mit der Spitze des Federhalters an die Zähne. Natürlich existierte kein Lord Buckingham. Dieser fiktive Lord diente der Vermittlung als Vorwand, um eventuelle Klienten zusammenzuführen.
Sie setzte die Feder wieder an und erklärte, dass Miss Duncan selbst keine Ahnung hätte, wer Dr. Farrell sei, da sie aber mit Lord Buckingham bekannt sei, würde sie den Arzt fraglos willkommen heißen. Sehr gut bekannt, überlegte Chastity schmunzelnd. Da er ihrer Phantasie entsprungen war.
Eine Dame, die Dr. Farrell auf seiner Brautschau vielleicht interessieren könnte, würde eine weiße Nelke tragen. Falls er nach näherer Musterung eine Vorstellung wünsche, würde seine Gastgeberin diese arrangieren, selbstverständlich ohne Fragen zu stellen.
Chastity legte den Federhalter aus der Hand und überflog den Brief. Briefe dieser Art hatte sie schon oft verfasst, so dass sie keinen Fehler finden konnte. Sie unterschrieb mit Vermittlungs-Service , trocknete die Tinte auf dem Papier, faltete den Briefbogen und steckte ihn in einen Umschlag, den sie unter dem Namen des Arztes an Mrs. Beedles Eckladen richtete, wie Douglas Farrell es in seinem Brief gewünscht hatte. Mrs. Beedle agierte nicht nur für die Klienten der May fair Lady und des Vermittlungs-Service als postlagernde Adresse, und Chastity hatte sich einige Zeit den Kopf zerbrochen, aus welchem Grund ein Londoner Arzt eine solche Adresse benötigte. Hatte er denn keine eigene? Es war eine Frage, die in dieselbe Kategorie fiel wie jene, was ein Mann mit so großen gesellschaftlichen Ambitionen in diesem alles andere als noblen Stadtteil suchte.
Sie legte die Stirn in Falten und dachte an das Krankenhaus nahe St. Mary Abbot's. Chastity hatte nie einen Fuß in diese Gegend gesetzt, doch wusste sie - oder glaubte zu wissen -, dass Earl's Road, Warwick Road und Cromwell Road nicht nur wenig repräsentabel, sondern größtenteils schreckliche Slums waren. Dort konnte er mit einer Praxis nur wenig verdienen, was vermutlich Teil seines Problems war. Aber warum verwendete ein Mann, der sich offen und ungeniert eine reiche Frau und eine profitable Praxis zulegen wollte, überhaupt Zeit für die Armen .und Kranken in den Londoner Slums? Womöglich bleibt ihm nichts anderes übrig, überlegte sie. Eventuell war er als Arzt so unfähig, dass nur die Armen, die keine andere Wahl hatten, ihn in Anspruch nahmen. Nach allem, was sie von seiner Haltung im Allgemeinen mitbekommen hatte, würde es ihm sehr schwer fallen, sich bei den Reichen und Angesehenen, deren Ärzte einen Balanceakt zwischen Unterwürfigkeit und Autorität vollbringen mussten, beliebt zu machen. Da ihm dies wohl klar war, suchte er eine Frau mit Verbindungen, die raue Kanten glätten konnte, oder, im Falle der Signorina della Luca, Menschen redselig überfuhr und potenzielle Patienten in seine elegante Praxis trieb wie eine Herde willfähriger Rinder zum Schlachter.
Chastity gähnte, ein wenig enttäuscht von ihrer eigenen Bosheit. Sie war doch sonst nicht so. Sie legte den Brief auf den Sekretär, mit der Absicht, ihn Prues Butler zu geben, damit er ihn am Morgen einwerfen sollte. Dann kletterte sie wieder ins Bett, diesmal, um tatsächlich zu schlafen.
In dem kahlen Raum war es eiskalt trotz des kümmerlich flackernden Kohlenfeuers im Kamin. Die Frau auf dem Strohsack wand sich stumm und erduldete stoisch, was sie schon sechsmal erduldet hatte.
Douglas Farrell richtete sich nach der Untersuchung auf und sagte leise: »Ellie, komm mit der Kerze näher.«
Das Mädchen, das aussah, als wäre es nicht älter als acht, brachte dem Arzt eilig den Kerzenstummel. Sie hielt ihn wie verlangt in die Höhe, den Blick vor den Qualen der Mutter abwendend.
»Hast du das Wasser abgekocht?«, fragte Douglas sanft, während er den gewölbten Unterleib abtastete.
»Das macht Charlie«, erwiderte das Kind. »Ma wird doch wieder
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