Im Bann der Wasserfee
nicht. Sie schritt vorbei an den Schaulustigen, die sich vor dem Palast versammelt hatten.
Zu allem Übel stand auch noch ihr verflossener Geliebter, Jacut, in vorderster Reihe des Volkes. Er starrte geradezu aufdringlich zu ihr herüber. Verstand er denn immer noch nicht, dass er sie nicht wieder zurückgewinnen konnte? Es war schon zwei Jahre lang vorbei zwischen ihnen. Ihre Liebe war an dem Abend gestorben, als sie ihn zusammen mit einer anderen nackt in eindeutiger Pose vorgefunden hatte.
Dahut suchte Liebe und Hingabe, was für sie auch Treue einschloss. Jacut verfolgte sie nach diesem Vorfall noch monatelang. Fast glaubte sie, ihn niemals mehr loszuwerden. Es gab einen Grund, warum Dahut ständig einen Dolch am Leib trug.
Auch am Abend, als sie die Allee von Fliederbäumen entlangschritt, war Dahut froh, ihren Dolch bei sich zu haben. Ein Kribbeln in ihrem Rücken ließ sie innehalten.
Sie blieb stehen und wandte sich um, doch nichts als Schatten waren zu sehen. Sie schienen tiefer und dunkler zu sein als sonst. Selbst der Mond war düster, verhangen von Dunstschwaden, und sein Licht von einem tristen Grau. Zweige ragten empor wie dürre Finger. Wann waren all die Blätter heruntergefallen? Es war doch noch Sommer.
Dahut fröstelte. Sie tastete nach ihrem Dolch, der griffbereit in seiner reichverzierten Scheide an ihrem Gürtel hing. Er verlieh ihr ein Gefühl von trügerischer Sicherheit.
Nichts war zu hören als Stimmen und Schritte in der Ferne, wo die Menschen von ihrem Tagesgeschäft nach Hause zurückkehrten. Hier in der Allee erklangen hin und wieder die Schreie eines Käuzchens.
Dahut wandte sich wieder um und lief weiter. Das Gefühl, nicht allein zu sein, wich jedoch nicht. Sie war auf dem Rückweg vom Tempel der Brigantia. Die Arbeiten dort gingen zügig voran. Leider war die Statue der Göttin nicht mehr zu retten gewesen, was sie zutiefst bedauerte. So hatte sie bei einem Steinmetz eine neue in Auftrag gegeben. Sie wusste nicht, was sie mit der alten machen sollte, denn eine Götterstatur konnte man nicht einfach wegschmeißen.
Womöglich schlichen die Tempelschänder noch hier herum. Zorn wallte in Dahut auf. Sie wünschte sich, dass die Täter nicht ungestraft davonkamen. Es war nicht richtig, einen geweihten Ort zu schänden.
Dahut zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht. Zwar waren nur noch wenige Menschen unterwegs zu dieser Stunde, doch sollte sie niemand erkennen. Ihr Vater würde sie einsperren, wüsste er, dass sie allein draußen umherlief – noch dazu mitten in der Nacht!
Sie hatte Ragnar aufsuchen wollen, ihn jedoch nicht in seinen Gemächern vorgefunden. Daraufhin war sie zu ihrem kürzlich erworbenen Haus unweit des Deichs gelaufen. Sie fegte es aus, da sie in den nächsten Tagen ein paar Möbel dafür erstehen wollte.
Ihr Vater wusste natürlich nicht davon. Womöglich konnte sie hier ein paar Tage untertauchen, sollte die Flucht nicht rechtzeitig gelingen. Allein der Gedanke, mit Brioc die Ehe vollziehen zu müssen, trieb ihr den Angstschweiß auf die Stirn.
Sie hatte das von Sträuchern umgebene Haus wieder verlassen und war ziellos durch die Straßen gelaufen, in der Hoffnung, Ragnars Weg zu kreuzen. Wenn sie zurück beim Palast wäre, würde sie noch einmal bei seinen Gemächern vorbeischauen.
Schritte erklangen. Dahut fuhr herum und griff gleichzeitig nach ihrem Dolch. Eine riesige Gestalt kam auf sie zu. Sie wollte wegrennen und sich verstecken, doch dann vernahm sie ihren Namen.
»Dahut, warte!«
Leise waren die Worte nur, dennoch erkannte sie Ragnars Stimme. Sie würde sie aus tausenden zu unterscheiden wissen.
»Ach, du bist es.«
»Erschrocken?«
»Es ist hier so düster.«
Ragnar ließ seinen Blick über die Bäume gleiten. »Sie werfen mehr Schatten, als man es für möglich hielte. Die Lichtverhältnisse in dieser Allee ähneln beinahe denen der Winternächte in meiner Heimat. Bist du auf dem Weg zurück zum Palast?«
Sie nickte.
»Dann werde ich dich ein Stück begleiten. Ich habe dir etwas mitgebracht.« Er hielt ihr etwas hin.
Sie starrte das Gewand an. Da sie aufgrund der Dunkelheit nicht viel davon erkennen konnte, tastete sie nach dem Stoff. »Ein Kleid? Was soll ich damit? Ich habe unzählige davon, die meisten weitaus prächtiger und aus teuererem Tuch als dieses.«
»Zieh es morgen an. Ich habe es einer Frau abgekauft, die dir ähnlich sieht. Die Nächte werden immer länger und finsterer. Womöglich können wir im Schutz der Dunkelheit
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