Im Bann des Fluchträgers
Darian. »Habt ihr Appetit auf ein Stück Mähnenschlange?« Amina verzog den Mund.
»Aber wenigstens die Festlichkeiten sollten wir uns ansehen«, fuhr Darian fort. Sie brauchten nicht lange um wieder auf die breite Straße zu treffen, die zum Markt führte. Musik und Stimmengewirr brachen über sie herein wie eine Woge, als sie die letzte Biegung hinter sich brachten und wieder auf dem Marktplatz standen. Die Sonne stand so schräg, dass sie riesige Schatten auf die hellen Häuserwände malte. Das weiße Gebäude war erleuchtet. Die Krüge standen nun auf dem Kopf. Vor jedem häufte sich ein Berg einfarbiger Muscheln. Der Berg mit den hellbraunen Muscheln war der größte. Offenbar waren die Muscheln gezählt worden, denn Ravin entdeckte, dass die Fischer, die am Vormittag wartend neben den Krügen gesessen hatten, sich Kreidestaub von den Fingern klopften. Endlose Abfolgen von Strichen waren auf dem Boden zu sehen.
»Auf Moni«, rief eine Frau neben Ravin und ein paar Leute, die Ketten aus hellbraunen Muscheln um den Hals trugen, prosteten ihr zu: »Auf Mon!«
Ein Mann trat auf den Balkon. Seinen kahlen Schädel schmückte ein Kranz aus getrocknetem Seetang. Er lachte über das ganze dunkle Gesicht und winkte. Mons Anhänger jubelten und tobten. Am Rande des Platzes erspähte Ravin ein ruhiges Plätzchen und zog Darian und Amina mit sich. Betrunkene rempelten sie an, als sie sich einen Weg durch die Menge bahnten. Endlich, an einem Giel-Stand, kamen sie zum Stehen und hatten wieder etwas Luft. Zwei kräftige Männer trugen ein riesiges Tablett mit bluttriefenden Fleischstücken zu einem Tonofen. An einem der Fleischbrocken hing noch ein Fetzen glitschiger Mähnenhaut. Ravin hatte bei diesem Anblick das Gefühl, als würde sich ihm der Magen umdrehen.
Musik hatte eingesetzt, ein wilder Tanz aus Klatschen, Walzahngesängen und einem Instrument, das aussah wie ein flacher Holzsattel, über den einige Sehnen gespannt waren. Als der Spieler mit schwieligen Fingern darüber strich, gab das Instrument Töne von sich, die sich wie das Jaulen eines Hundes anhörten. Trommler standen daneben und schlugen mit lederumwickelten Händen auf ausgehöhlte, mit Ziegenhaut überzogene Jalafrüchte. Die Menge stampfte und klatschte. Als hätte sich der Himmel an die Mähnenschlange erinnert, färbte die Sonne sich rot, hielt die Erinnerung an das festliche Blutvergießen eine Zeit lang am Himmel – bis schließlich der dunkle Schleier der Dämmerung den Abendhimmel verhüllte und sich über den Marktplatz senkte. Fackeln loderten auf, jedes Geräusch war plötzlich kristallklar. Der Duft von gebratenem Schlangenfleisch wehte zum Giel-Stand herüber. Und der Tanz ging weiter. Erst jetzt bemerkte Ravin, dass Amina nicht mehr neben ihm stand. Darian fing seinen besorgten Blick auf und deutete in die Menge – und da entdeckte Ravin sie. Sie tanzte! Ihr Tuch flog bei jeder Bewegung, sie lachte und klatschte mit den anderen. Die Narbe war unter dem Tuch verborgen. Im Fackelschein wirkte ihr Gesicht gar nicht mehr dunkel und unheimlich, es war fröhlich und unglaublich schön und klar. Einen verzauberten Augenblick lang erschien es Ravin, als sei die Zeit stehen geblieben. Aminas Lachen trieb zu ihnen herüber. Und die ersten Sterne erwachten am Himmel. Für einen unbestimmten Moment lang gestand Ravin sich ein, dass er trotz allem glücklich war.
Auf dem Rückweg waren sie schweigsam. Mit jedem Schritt ließen sie den Festlärm weiter hinter sich. Amina war erschöpft und außer Atem, doch ihre Augen leuchteten. Sie nahmen den Weg, der am Kleinen Hafen entlangführte, wo die Ruderboote vertäut waren. Wie ein Spiegel lag das Meer vor ihnen. Weit draußen glitten bereits wieder die
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