Im Bann des Fluchträgers
frische Nachtluft ihm ins Gesicht wehte.
»Lass mich los!«, zischte Amina. Mit einer beiläufigen Handbewegung bog sie seine Finger auf, dass er vor Schmerz zusammenzuckte. Ihr Griff war wie Eisen. Erschrocken wich er zurück.
»Entschuldige«, murmelte sie und senkte den Blick. Ihre Hände entspannten sich. »Es ist nur – unter zwanzig Fischern ist nur einer, der klar sieht. Und ausgerechnet der ist betrunken.«
W
enn man auf den schlecht geflochtenen Matten lag, zog einem der Geruch nach Fäulnis noch stärker in die Nase. Die harten Fasern – Ravin hielt sie für getrocknete Algen – stachen bei jeder Bewegung. Aus etwa zwanzig Kehlen und Nasen schnarchte und pfiff es. Die meisten, die hier übernachteten, waren aus den Dörfern in die Stadt gekommen und nun betrunken auf ihre Matten gefallen. Noch Stunden, nachdem Darian, Ravin und Amina sich schlafen gelegt hatten, klappte die niedrige Tür auf, torkelten die Nachzügler geräuschvoll in den Raum und suchten ihr Lager. Ravin schlief unruhig und wachte mehrmals auf. Hinter seinen geschlossenen Lidern leuchtete die Stadt mit ihren weißen Häusern, die Mähnenschlange schwamm durch einen Wald blutroter Tücher, Menschen tanzten im Fackelschein. Diolen erschien aus dem Nichts und bot ihm mit einem kalten Lächeln eine weiße Muschel an. Dieses Bild ließ Ravin aufschrecken. Im Halbdunkel der Sommernacht konnte er erkennen, dass Darian fest schlief. So leise wie möglich stand er auf und stieg über die Schlafenden hinweg. Als er endlich vor Ujas Herberge auf der Straße stand, atmete er auf und schlug den Weg in Richtung Hafen ein. Die Straßen waren menschenleer, doch der Himmel begann sich am Horizont bereits zu verfärben. Ravin setzte sich auf einen Haufen salzverkrusteter Taue und atmete tief durch. Die frische Meeresluft vertrieb die Gespenster aus seinem Traum und wehte alle kummervollen Gedanken weit hinaus aufs Meer.
Er bemerkte Amina erst, als sie direkt neben ihm stand.
»Ich kann auch nicht mehr schlafen«, flüsterte sie. Ravins Herz klopfte bis zum Hals, aber er hoffte, sie würde seinen jähen Schrecken nicht bemerken. Die ersten Boote kehrten mit ihrem nächtlichen Fang zurück. Mit einem wütenden Zischen verloschen die Fackeln, die die Fischer ins Wasser tauchten. Ravin musste an Naja denken. Seit er die Feuernymphe zum ersten Mal gesehen hatte, konnte er nicht mehr ins Feuer blicken ohne etwas Lebendiges darin zu entdecken.
Ein Boot mit zwei Fischern an Bord hielt auf den Hafen zu. Paddel tauchten schmatzend ins Wasser ein. Das Boot lag tief und knirschte über die glatte Felsrampe, die als Anleger gebaut worden war. Die Fischer, beide klein, kräftig und so ähnlich, dass sie Brüder sein mussten, sprangen an Land. Ravin erschienen ihre Bewegungen wie ein eingespielter Tanz. Sie griffen nach den mit langen Widerhaken versehenen Speeren, die im Boot lagen, holten gleichzeitig damit aus und wuchteten mit einem kraftvollen Schwung den hässlichsten Fisch, den Ravin jemals gesehen hatte, auf den Felsen. Entfernt glich er der Zeichnung auf Sumal Bajis Tür, doch dieser Snai war um ein Vielfaches hässlicher, als Ravin sich ein solches Tier vorgestellt hatte. Sein riesiges Froschmaul klaffte auf. Er hatte keine Schuppen, sondern eine knorpelige, gescheckte Haut, die aussah wie ein Netz aus feuchten, grauen Narben. Auf seinem Rücken ragten stumpfe Stacheln empor aus je einem dieser Narbenwülste. Winzige Flossen an den Seiten und ein kurzer scheibenförmiger Schwanz ließen darauf schließen, dass Snais sich im Wasser langsam bewegten.
Die Fischer zückten ihre Messer und schälten die Haut ab, mit jeder flinken Bewegung darauf bedacht, die Stacheln nicht zu berühren. Sie schichteten
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