Im Bann des Fluchträgers
Marjulablüten eingewoben waren, schmückten das Gebäude. Weit über Ravins Kopf ragte ein Balkon über den Marktplatz.
»Muscheln für die Wahl des Fischerrates?«
Die Stimme ließ Ravin herumfahren. Er sah sich einem Händler gegenüber, der vor dem Bauch mehrere Schilfköcher hielt. Jeder von ihnen war randvoll mit kleinen Muscheln in verschiedenen Farben gefüllt. »Schwarze Muschel für Sanjan, wie im vergangenen Jahr. Braune für Mon, rote für Nisal …«
»Nein, danke«, erwiderte Ravin freundlich.
Der Händler fühlte sich angespornt.
»Ach, dann stimmt ihr für Klio? Kluge Wahl! Klio will Flut wieder aufbauen lassen. Ich stimme auch für ihn. Habe mein Haus bei der großen Flut verloren.«
Er holte eine weiße Muschel hervor und hielt sie Ravin hin. Ravin zögerte.
Langsam dämmerte ihm, dass der Mann vielleicht gar kein Händler war. Über die Schulter des Mannes sah er, wie weitere Männer mit Köchern über den Platz liefen und Muscheln verteilten.
»Ja, ich stimme für Klio«, sagte er schnell. Ein Lächeln ging über das Gesicht des Mannes. Er gab Ravin die Muschel, griff mit einer Hand in einen schmalen Köcher mit heller Farbe und zeichnete damit eine Stelle an Ravins Unterarm. Ravin zuckte zurück, ließ es sich jedoch gefallen. Offensichtlich zeigte der weiße Fleck an, dass er bereits gewählt hatte. Damit sollte verhindert werden, dass sich dieselben Menschen immer wieder neue Muscheln holten, um die Wahl dadurch zu verfälschen. Unter dem Balkon entdeckte Ravin riesige Krüge. Neben jedem stand ein Fischer und wartete. Hastig steckte Ravin die Muschel ein.
»Seht mal, dort!«, rief Amina und drängte sich durch eine Ansammlung von Menschen. In der Mitte stand ein Holzbecken, das Ravin bis zur Schulter reichte, aber etwa so breit war wie der ganze Seilermarkt. Wasser schwappte darin. Es roch nach Algen und Fisch. Die Menschen drängten sich darum, einen Blick über den Holzrand zu erhaschen, und schrien auf, wenn sie einen Blick in das Wasser warfen. Amina, Ravin und Darian drängten sich ebenfalls näher heran. Die nachfolgenden Leiber drückten sie so dicht an den Bottich, dass Ravin durch seine Kleidung die kühle Nässe des Holzes fühlen konnte. Etwas bewegte sich in dem Becken. Er kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Zuerst erkannte er etwas, das wie ein mit Tang bewachsenes Seil aussah. Dann bewegte sich das Seil. Eine Mähnenschlange! Im Tjärgwald gab es fingerlange Exemplare. Doch diese hier war dicker als Ravins Bein. Mit geöffnetem Maul und pumpenden Kiemen lag sie schlaff im lauwarmen Wasser, dreimal um sich selbst geringelt.
»Die wird heute Abend nach dem Umzug gebraten«, sagte eine Mutter zu ihrem kleinen Sohn, den sie über den Rand hielt, damit auch er die Schlange sehen konnte. Dann wurde Ravin schon beiseite gedrängt und kämpfte sich aus der Menge. Er suchte nach Amina und Darian und fand sie am Rand der Menschentraube, wo sie nach ihm Ausschau hielten. Amina war blass.
»Wenn schon die Mähnenschlangen so groß werden, will ich nicht wissen, was uns sonst noch im Meer erwartet«, sagte sie. Ravin lachte, doch er gab nicht zu, dass er Ähnliches dachte.
»Hier tagt heute Abend der Rat der Fischer«, sagte Darian. »Habe ich eben gehört. Die Bevölkerung von Dantar wählt einen, der dann wieder für ein ganzes Jahr als Fischerkönig regiert. Wenn die Sonne untergegangen ist, geht das Fest richtig los.«
Sie überquerten den Platz und bogen in eine schmale Gasse ein, die zu einem kleineren Markt führte. Im Gegensatz zum großen Hauptplatz war es hier viel ruhiger und kühler. Ravin entdeckte einen Stand voller Krüge, in jedem davon war ein anderer Giel. Darian und Amina verzogen das Gesicht, als der saure Tee ihre Lippen berührte. Doch sie waren
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