Im Bann des Fluchträgers
anerkennend auf die Schulter, als Ladro schilderte, wie geschickt Ravin Sumal Baji zu der Reise überredet hatte.
Amina war vor allem Ladro gegenüber sehr freundlich. Ravin hatte den Verdacht, dass sie sich doch daran erinnerte, ihn beinahe getötet zu haben. Ladro dagegen ließ sich nichts anmerken, lachte sogar mit ihr und erwiderte ihre Umarmung, mit der sie ihn begrüßte. Ravin wurde aus Ladro nicht schlau. Er wusste, dass er ihm vertrauen konnte. Und doch, das unbestimmte Gefühl, dass Ladro und Amina etwas ganz anderes verband als Freundschaft oder sogar Liebe – dieser Gedanke versetzte ihm einen Stich –, ließ ihn nicht los.
Bereits am Vortag war Ravin die Stadt bevölkert erschienen, doch im Vergleich zum heutigen Tag waren es nur ein paar verstreute Fußgänger gewesen. Über Nacht hatte die Stadt ihr Festgewand angelegt. Aus jedem Fenster hingen nicht nur die rotweißen Tücher, sondern auch bunte Kurztücher, die an dünnen Seilen quer über die Straßen gespannt waren. In Aminas und Darians Gesichtern las Ravin dasselbe Erstaunen, das er am Tag zuvor gefühlt hatte. Anfangs schoben sie sich mit gesenkten Köpfen durch die Straßen, bald jedoch steckte die Fröhlichkeit um sie herum sie an, sie staunten, blieben mit offenen Mündern vor einer Gruppe Fischer stehen, die drei riesigen ausgehöhlten Walzähnen grauenhafte Töne entlockten und ließen sich weiter treiben. Aminas düsterer Gesichtsausdruck wich einem fassungslosen Staunen – und bald schon lächelte sie. Auch Ravin konnte nicht umhin, ihn erfasste der Trubel, die Musik vibrierte durch seine Seele, pulste in seinem Blut und brachte seine Beine zum Schwingen. Jede Brise, die vom Meer ihre Gesichter kühlte, trug einen Teil seiner Sorgen davon. Und schließlich sagte ihm eine leise, lustige Stimme in seinem Inneren, dass es keine Rolle spielte, wenn sie die Vorräte nicht sofort kauften, sondern sich erst einmal die Stadt ansahen. Er würde Jolon davon erzählen. Jetzt, im Sonnenlicht, fühlte er sich stark und zuversichtlich.
Amina fasste ihn am Arm und deutete auf einen Kleidermarkt. Noch nie hatte Ravin so viele Stoffe auf einmal gesehen. Mehr als tausend Jahre könnten alle Lager im ganzen Tjärgwald weben – und immer noch würden sie niemals so viele prächtige, federleichte Tücher fertig stellen. Einige von ihnen waren so fein, dass man durch sie hindurchblicken konnte und die Welt dahinter in roten, blauen und goldenen Nebeln versank. Ehe Darian und Ravin sichs versahen, war Amina verschwunden und kehrte kurz darauf mit einem dieser durchsichtigen Tücher und zwei Strohhüten zurück. »Niemand soll uns erkennen«, sagte sie verschmitzt und drückte Ravin den Hut in die Stirn. Anschließend breitete sie den Schleier über ihr Haar und sah nun aus wie eine ganz gewöhnliche Städterin. Dennoch war diese Vorsichtsmaßnahme unnötig, denn Ravin hatte weit und breit noch keinen Horjun entdeckt. Erstaunt bemerkten sie, dass alle Menschen hier Ketten aus vielfarbigen Korallen trugen. Auch die Männer und selbst die Kinder waren für diesen Festtag damit herausgeputzt. Viele Stände waren mit frischen Blüten geschmückt. Wenn man an ihnen vorbeiging, vermischte sich der zarte Duft mit dem Aroma von Räucherfisch, ein angenehmer, doch betäubend intensiver Gegensatz.
Als die Sonne so hoch stand, dass selbst die Schatten verschwanden, kamen sie auf einen großen Markt. Ravin musste sich den Hals verrenken um ihn ganz zu überblicken. Rechts von ihnen erhob sich ein Haus, das prächtiger geschmückt war als alle anderen. Die Fenster waren so hoch, dass die Menschen daneben winzig wirkten. Armdicke Flechten von getrocknetem Tang, in die
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