Im Bann des Fluchträgers
herauslöste.
Die Nacht war unnatürlich still. Selbst die Hallgespenster hatten sich zurückgezogen. Ravin zwang sich die Augen zu schließen. Wie in jeder Nacht schickte er seine Gedanken zurück nach Tjärg. Der Traumfalter streifte seine Schläfe. Jolon saß beim Feuerschein, eng in seinen langen Fellmantel gehüllt. Das Feuer loderte vor einem schwarzgrauen Himmel. Rauchschwaden verdunkelten den Mond. Die Dämonen heulten um das Feuer, doch sie berührten Jolon nicht. Jolons Augen waren geschlossen, als träumte er. Um seine Stirn leuchtete ein schmaler Reif aus Silber, das floss und strahlte und seine Struktur veränderte wie Quecksilber. Die Königin wacht über seine Träume, dachte Ravin beruhigt. Die Dämonen fauchten und wichen zurück, als der Ring aus Licht um seine Stirn wieder zu fließen begann. Ein Dämon hob plötzlich den Kopf, als hätte er etwas gehört, seine Purpuraugen wandten sich Ravin zu. Wie bei den Hallgespenstern konnte Ravin auch in seinem Gesicht menschliche Züge erkennen. Dieser Dämon war ein Mensch gewesen, kaum älter als Ravin!
Ravin sprang aus seinem Traum, als würde er ein Zimmer verlassen und die Tür hinter sich zuschlagen. Er atmete heftig und fühlte die Augen immer noch auf sich gerichtet. Sein Herz raste, neben sich hörte er die Glut des Lagerfeuers leise knacken. Ob Hallgespenster in der Nähe waren? Oder war es das Mädchen? Vielleicht sitzt es da und beobachtet mich, dachte er und erinnerte sich schaudernd an seine seltsamen Augen. Plötzlich wusste er, was ihn so beunruhigte: Das Mädchen sah aus wie ein Geist. Und seine Augen glichen denen der Dämonen. Ravin schluckte und schlug die Augen auf.
Die Fremde saß aufrecht neben der Feuerstelle und schaute ihn an. Die Glut spiegelte sich in ihren Augen und tanzte dort wie eine Feuernymphe. Ravin erschien sie nun ganz und gar wahnsinnig, umso mehr als ihr Gesicht und ihr Mund völlig regungslos waren und kein Gefühl verrieten –nur dieser Blick! Ravin spürte, wie er zitterte.
»Wer bist du?«, flüsterte er.
Sie sah ihn immer noch unverwandt an, die tanzenden Dämonenlaternen in den Augen.
»Bist du ein Dämon? Gehörst du zu ihnen?«
Ravin glaubte so etwas wie Erstaunen in ihrem Gesicht zu lesen. Sie streckte die Hand aus und nahm einen Holzscheit, der an einem Ende bereits verkohlt war. Dann holte sie einen flachen Stein aus ihrer Ledertasche. Handtellergroß und weiß war er. Mit geübter Hand strich sie darüber und begann mit dem Kohlestück ein Zeichen darauf zu malen. Ravin wurde in diesem Moment bewusst, dass sie wirklich stumm sein musste. Offensichtlich waren Stein und Kohlestück ihre Art, sich mit ihrer Umwelt zu verständigen. Sie malte sehr geschickt, wie Ravin fand. Seine Neugier gewann die Oberhand und er beugte sich näher zu ihr, um die Zeichnung besser erkennen zu können.
»Eine Canusweide«, flüsterte er.
Sie nickte.
Mit wenigen Strichen war es ihr gelungen, ein perfektes Abbild des Baumes zu zeichnen: den schlanken Stamm, der sich im Sturm beinahe bis zum Boden neigen konnte ohne zu brechen, und die langen peitschenförmigen Zweige mit den pfeilförmigen Blättern. Ravin war verblüfft. Das Mädchen zeigte erst auf den Baum und dann auf sich.
»Du heißt Canusweide?«
Das Mädchen schüttelte ungeduldig den Kopf und malte neben den Baum ein Zeichen. Ravin kannte es. Das war ein Zeichen der alten Waldsprache. Überrascht sah er die Fremde an. Sie war also doch ein Waldmensch wie er. Und offensichtlich war die alte Sprache ihres Lagers dieselbe, die er aus Tjärg kannte. Auch in seinem Lager gab es viele Menschen, die sich Namen aus der Vergangenheit liehen.
»Du bist nach der Canusweide benannt. In der Waldsprache?«
Das Mädchen nickte
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