Im Bann des Maya-Kalenders
passierte. »Ich habe mit einem Schlag alles verloren, was mir wichtig war«, erzählte er. Er wusste lange Zeit nicht, ob er das zweite Leben als Geschenk oder Strafe betrachten sollte.
Die Volkstempler nannten ihren Führer mit der betörenden Stimme Dad oder Father, wie Carter berichtete. Carter folgte Jim Jones zusammen mit seiner Frau Gloria, seinem Bruder und seiner Schwester nach Guayana. »Nach meinen traumatischen Erlebnissen im Vietnamkrieg träumte ich von einer alternativen Lebensform ohne Gewalt und Rassismus«, erzählte er. »Ich wollte mithelfen, eine neue Gesellschaft aufzubauen.«
Carter erlebte den Alltag im Camp als sehr hart. Sie hätten bis zum Umfallen geschuftet, Nahrung sei oft knapp gewesen, Schlafentzug und Mangelerscheinungen hätten viele entkräftet. Die Angst vor dem amerikanischen Geheimdienst, die ihnen Jones eingetrichtert hatte, schweißte sie trotz der wachsenden
Repressionen zusammen. Sie glaubten ihm, dass sie bewaffnete Sicherheitskräfte brauchten. »Eine Flucht war aussichtslos, das Gelände wurde überwacht. Außerdem hatten wir alles Geld abgegeben und unsere Pässe waren konfisziert«, so Carter. Und er fügte an: »Ich bin freiwillig nach Jonestown gegangen, aber nicht freiwillig geblieben.«
Wer flüchten wollte oder die Verhaltensregeln verletzte, wurde eingesperrt oder mit Elektroschocks gefoltert. Father Jim entwickelte sich laut Carter zum Despoten und wendete immer neue Manipulationstechniken an. Tim Carter erfuhr, dass eine schwere Krankheit seinen religiösen und politischen Wahn verschärfte und seine Endzeitvorstellungen begünstigte: »Ich wusste von seiner Betreuerin, dass er todkrank war.«
Das Unheil begann mit einem Ritual, das Jim Jones damals regelmäßig inszenierte. Er nannte es »weiße Nacht«, wie Carter berichtete. Feuersalven, die durch den Urwald hallten, gaben das Signal. Dann rief Jones jeweils eilig seine Anhänger im abgeschiedenen Dschungelcamp über Lautsprecher zum Versammlungspavillon. Der amerikanische Geheimdienst CIA überfalle das Camp und wolle sie vernichten, rief Jones seinen Anhängern zu.
»Jim Jones fragte uns, wer bereit sei, einen mit Valium und Zyankali durchsetzten Saft zu trinken«, erzählte Carter. Nur etwa zehn Personen hätten sich gemeldet und den Giftbecher getrunken. Jones nannte das Ritual »revolutionärer Suizid«.
Es sei nur eine Hauptprobe, beruhigte der damals 47-jährige Führer seine Anhänger, doch diese »weißen Nächte« folgten in immer kürzeren Abständen. »Unter dem psychischen Druck stieg die Zahl der Personen, die den revolutionären Suizid zu vollziehen bereit waren«, sagte Carter. Die Suizidwilligen hofften derweil, dass es wieder nur eine Hauptprobe war.
Als Jones erfuhr, dass der Kongressabgeordnete Leo J. Ryan Recherchen anstellte und einen Besuch vorbereitete, geriet Jones laut Carter in Panik. Der Sektenführer konnte die Regierungsdelegation
aber nicht abweisen. »Als Ryan am 17. November das Camp besuchte, gaben wir artig Auskunft. Jones hatte uns instruiert. Wir seien freiwillig hier und lebten wie im Paradies, logen wir. Am Abend präsentierten wir uns bei einem Fest als fröhliche Lebensgemeinschaft. Ryan zeigte sich beeindruckt und bedankte sich in einer Rede. Der Politiker war erleichtert, dass sich die Sektengerüchte nicht bewahrheitet hatten«, berichtete Carter.
Zwei Sektenmitglieder trübten indes das idyllische Bild im letzten Moment. Sie steckten einem Delegationsmitglied heimlich einen Zettel mit der Botschaft zu: »Bitte helfen Sie uns, von Jonestown wegzukommen.«
Am nächsten Tag, es war der 18. November, führte Marceline Jones, die Frau des Sektenführers, die Besucher bei einem Rundgang durch Jonestown. Plötzlich stellten sich ihnen zwei Familien in den Weg und flehten, sie in die USA mitzunehmen. Jonestown sei keine alternative Lebensgemeinschaft, sondern ein kommunistisches Gefängnis.
»Jim Jones geriet unter Druck und musste zähneknirschend die Familien ziehen lassen«, berichtete Carter. »Nun signalisierten weitere Volkstempler den Wunsch, Jonestown zu verlassen. Überraschenderweise auch Larry Layton, ein enger Vertrauter von Jones. Die Delegation fuhr zum Rollfeld Fort Kaituma, das ein paar Kilometer entfernt war. Die Sektenmitglieder bestiegen eine Cessna, die Delegation des Politikers eine Twin Otter. Als die Cessna abflugbereit war, schoss Layton auf die Passagiere. Er hatte seine Fluchtabsicht vorgetäuscht, um die Abtrünnigen zu
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