Im Bann des Maya-Kalenders
Gregor VII. bezeichnete den Kaiser als das stinkende »Tier« aus der Johannes-Offenbarung, das den Mund öffne, um Gott zu lästern und Pfeile gegen
die Heiligen im Himmel zu schleudern. Friedrich II. nahm das Bild auf und antwortete ebenfalls mit einer apokalyptischen Metapher. Später machte sich der Kaiser sogar die Mühe, hinter dem Namen des späteren Papstes Innozenz IV. mit einer prophetisch-numerischen Zahlenarithmetik die Zahl 666 zu erkennen und ihn als Antichrist zu »entlarven«.
Die Reformation zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurde ebenfalls mit apokalyptischen Argumenten ausgefochten. Im Kampf mit der katholischen Kirche bezeichnete Martin Luther den Papst als Antichrist. Der Streit um die religiöse Wahrheit hatte die christliche Welt eingeholt. Die katholische Kirche drehte angesichts der Bedrohung durch die Reformatoren den Spieß um und konterte ebenfalls mit Endzeit-Metaphern.
Apokalyptische Dimensionen nahm auch die Bewegung der Wiedertäufer Anfang des 16. Jahrhunderts in Münster an. Gläubige, die sich von den christlichen Kirchen lossagten und sich im Sinne endzeitlicher Heilslehren neu taufen ließen, waren in mehreren Glaubensgemeinschaften organisiert. In der westfälischen Stadt Münster fanden sich die radikalsten Wiedertäufer zusammen und verjagten Katholiken und Protestanten. Als der katholische Bischof die Stadt belagerte, verkündeten die religiösen Führer der Wiedertäufer ein neues Zeitalter und eine göttliche Ordnung. Außerdem errichteten sie ein Terrorregime.
Der letzte Tyrann der Wiedertäufer, Jan Bockelson, sagte die baldige Wiederkunft Christi voraus und gab sich als Messias aus, der die Heilsgeschichte zu Ende bringen müsse. Der apokalyptische Wahn ging nicht spurlos an ihm vorüber und umnachtete schließlich seinen Geist. Die Belagerung war für ihn das angemessene Szenario, das seine apokalyptischen Visionen und paranoiden Fantasien auf unheilvolle Weise beflügelte. Nach über einjähriger Belagerung machten die katholischen Streitkräfte Mitte 1535 dem Endzeitfanal ein blutiges Ende. Nur wenige Wiedertäufer überlebten das Massaker. Sektendramen sind also keine Erfindung der Neuzeit.
Die Propheten orientierten sich damals bei ihren Endzeitvisionen mehr an weltlichen Zeichen und am religiösen Fahrplan als an magischen Daten. Bis zum 18. Jahrhundert haben das fehlende Zeitbewusstsein, die schlechten Bibelkenntnisse und die kirchliche Zurückhaltung in apokalyptischen Fragen datumsbezogene Endzeithysterien verhindert.
Man könnte also erwarten, dass die letzten zwei Jahrhundertwenden prophetische Unruhen hervorgerufen hätten. Laut Damian Thompson gab es im Jahr 1800 »zum ersten Mal ein deutliches Gefühl, von einem Zeitalter ins andere überzugehen«. Besonders in England und Amerika sei ein wahrnehmbares Wiedererwachen des Glaubens an Prophezeiungen feststellbar gewesen. Außerdem gab die Französische Revolution verschiedenen Propheten in jener Zeit Anlass zu apokalyptischen Spekulationen. Sektenhafte Endzeitereignisse rundeten das Bild ab. Das magische Datum regte zweifellos die apokalyptischen Diskussionen und Ängste vieler Gläubiger an, doch die Welt stand am 1. Januar 1800 nicht Kopf.
Dies tat sie zwar auch 100 Jahre später nicht, denn die freudige Erregung über das anbrechende 20. Jahrhundert war stärker als die apokalyptische Angst. Angesichts der Missionserfolge der Endzeit-Sekten und der Aufbruchsstimmung in den westlichen Gesellschaften wollten sich die Gläubigen nicht mit Horrorszenarien die Laune verderben lassen. So ließ sich keine größere Glaubensgemeinschaft dazu verleiten, den Jüngsten Tag auf die Jahrhundertwende zu terminieren.
Trotzdem wurde an der Schwelle zum 20. Jahrhundert eine gewisse apokalyptische Unruhe beobachtet. Viele kleinere dogmatische Glaubensgemeinschaften entfalteten am Ende des 19. Jahrhunderts apokalyptische Aktivitäten. Sie organisierten auf das Jahr 1900 ausgerichtete Missionskampagnen, als gelte es, im letzten Moment den biblischen Auftrag zu erfüllen und den »Heiden« das Evangelium zu verkünden. Auch wenn sich keine kollektiven Sektendramen ereigneten, so erhöhte sich der Puls
vieler Gläubiger um die letzte Jahrtausendwende doch erheblich.
Das Fin de siècle erlebte ganz allgemein Umwälzungen, die auch manch aufgeklärte Geister zu Kulturpessimisten oder »säkularen Apokalyptikern« machten. Die industrielle Entwicklung und die politischen Unruhen lösten vielfältige Zukunftsängste aus, die
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