Im Bann des Nebels, 2, Der ewige Bund (German Edition)
immer näher, und es waren Hunderte. Aus allen Kristallen lösten sie sich, durchsichtige Männer, Frauen und Kinder in gläsernen Kleidern und mit gläsernen Haaren. Ihre Ohren liefen spitz zu, ihre Augen standen schräg.
Aber plötzlich ging es wie ein Windstoß durch sie, und sie lösten sich auf. Nur ein einziger Mann blieb übrig. Er kam auf Sonja, Nachtfrost und Lorin zu, blieb stehen und lächelte zu Sonja hoch. Es war schwierig, ihn anzuschauen, weil seine Gestalt ständig zu zerfließen und sich neu zu formen schien. Aber als er sprach, erkannte sie ihn sofort.
»Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte er, und seine Stimme klang genauso menschlich wie in den acht Tagen ihrer gemeinsamen Wanderung.
»Haelfas!«
Der ehemalige Schattenjäger nickte. »Du hast ein weiteres Altes Volk gefunden, und wir sind bereit, dir zu helfen. Was verlangst du von uns?«
Eigentlich hätte sie ihn lieber gefragt, wie es ihm ging, aber nun wagte sie es doch nicht. »Wir … wir haben hier ein Buch. Aber wir können es nicht lesen. Könnt ihr uns dabei helfen?« Es war eine etwas dürftige Frage – ob sie vielleicht noch dranhängen sollte, dass sie dieses Buch im Krieg gegen die Dämonen brauchten? Aber Haelfas nickte und streckte die Hand nach dem Buch aus. Lorin hielt es ihm hin. Er nahm es und schlug es auf. Leicht strich er mit der Hand über die Seiten. »Die Erinnerungen der Enat kehren zurück«, sagte er; es klang wie eine Beschwörung. »Das Verborgene erwacht. Welchen Preis seid ihr bereit zu zahlen?«
»Jeden«, sagte Lorin sofort. Sonja zögerte noch. Haelfas wandte sein gläsernes Gesicht Lorin zu und nickte, dann schaute er Sonja an. Sie nickte. Dieses Versprechen kam i hr nicht ganz geheuer vor. Jeden Preis? Wirklich jeden? Es gab so viel, das sie nicht verlieren wollte …
»Ich gebe euch die Erinnerungen«, sagte Haelfas. »Der Preis ist der Kristall. Wenn ihr unsere Welt verlassen habt, gibst du deinem Gefährten den Kristall.« Sein Blick hielt Sonjas fest, und sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie hing nicht an dem Kristall, und ganz bestimmt würde sie ihn gerne an Lorin weitergeben, aber war das wirklich der Preis für das uralte Wissen? Da musste doch ein Haken sein – aber sie nickte wieder. Sie hatte Schlimmeres befürchtet.
»Mein Volk dankt euch.« Haelfas legte das Buch vor sich auf den Boden. »Lebt wohl.« Und noch bevor sie etwas sagen konnten, hatte er sich in Luft aufgelöst.
»War der auch so wortkarg, als du mit ihm gewandert bist?«, fragte Lorin.
Sie schüttelte den Kopf. »Da hat er mir Geschichten erzählt.« Dann schwang sie das Bein über Nachtfrosts Hals und rutschte auf den Boden. Lorin folgte ihr. Nachtfrost blieb ruhig stehen, als sie zu dem Buch gingen. »Sollen wir es gleich hier lesen?«, fragte Sonja. »Oder wieder mitnehmen?«
»Lieber hier. Vielleicht wirkt der Zauber nur innerhalb des Kristalls.«
Das klang vernünftig. Sie setzten sich nebeneinander hin, zogen das Buch zu sich heran und schlugen es auf.
Die Schrift war noch immer unleserlich, die Worte noch immer fremd. Bestürzt starrte Sonja die Zeichen an. Hatte Haelfas sie betrogen? Stimmte das alles gar nicht? Aber noch während sie sich verzweifelt fragte, was sie tun sollte, veränderte sich das Schriftbild. Und dann stand da ein Text, den sie lesen konnte.
D AS BUCH DER ENAT
VOM EWIGEN BUND UND DER WIEDERKEHR
KINRIATS, DES GEFALLENEN
»Kinriat«, wisperte Lorin. »Das muss der Name des Wolfsgottes sein.«
Stumm blätterten sie die Seiten um. Was sie lasen, war die Geschichte von Lyecenthe, von der Gründung bis zur Zerstörung. Sie lasen unzählige fremdartige Namen, Geschichten vom Aufstieg und Niedergang der Königshäuser bis zum Ewigen Bund, und dann lasen sie von der alles verheerenden Katastrophe, die die Welt auseinandergerissen und die Nebelmeere geöffnet hatte.
Und schließlich kamen sie zu einer Seite mit der Überschrift:
VON DER WIEDERKEHR DES
GEFALLENEN GOTTES
»Schau mal«, flüsterte Lorin und tippte auf einen Absatz. Dort war ein Zeichen aufgemalt, das Sonja mittlerweile nur zu gut kannte: ein Wolfskopf in einem Strahlenkranz.
Darunter stand:
Die Macht der Göttin verbrennt alles, was sie berührt, denn immer sucht sie nach dem, was ihr entrissen wurde, und sucht es den Lebenden mit Gewalt zu entreißen, und nur in der Hand ihrer Auserwählten hat sie Frieden.
»Das Amulett«, hauchte Sonja.
»Die Macht der Göttin«, murmelte Lorin. »Kein Wunder, dass
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