Im Bann des Nebels, 2, Der ewige Bund (German Edition)
vergessen, wie die Gegend östlich des Sternrückengebirges hieß und welche Stämme hier lebten. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie in den letzten drei Tagen weder Birjaks noch irgendwelche Spuren von Nomaden gesehen hatte.
Eigentlich hatte sie überhaupt niemanden gesehen, nur die Suchtrupps des Spürers. Selbst für Parva war das ungewöhnlich – irgendwo mussten die Bewohner des Landes doch sein! Wenn schon keine Menschen, dann wenigstens die Alten Völker. Aber Haelfas hatte sie mitten durch die Wildnis geführt. Wahrscheinlich war er einfach allen Leuten aus dem Weg gegangen.
Sie war müde. Sollte sie ein bisschen schlafen? Besonders einladend war dieser Platz ja nicht. Die Erde war kalt und feucht und roch modrig, und im Schatten der Steinbrücke war auch die Luft kalt. Fröstelnd zog Sonja Haelfas’ Umhang enger um die Schultern und setzte sich bequemer hin. Das Wasser des Perlenflusses strömte rasch und still an ihr vorbei und sah sehr tief aus. Es hatte etwas Einschläferndes, Einlullendes … bis Sonja merkte, dass es gar nicht mehr Wellen und Strudel waren, die sie betrachtete, sondern ein Gesicht.
Schlagartig war sie wieder wach. Ihr Mund war plötzlich ganz trocken, und ihr Herz klopfte bis zum Hals. Das Gesicht schaute sie an. Es war ganz aus Wasser, Augen, Nase und Mund waren nur Schatten, aber es gab keinen Zweifel, dass es sie ansah. Weder Mann noch Frau, weder alt noch jung; es sah aus, als hätte der Fluss sich nur irgend e ine Menschenähnlichkeit zusammengesucht, damit Sonja es als Gesicht erkannte.
Sag mal , sagte eine Stimme in ihrem Kopf, bist du eigentlich verrückt?
Sonja zuckte zusammen. »W-was?«
Ich fragte, ob du verrückt bist, Seelentauscherin. Weißt du nicht, mit wem du da durchs Land ziehst?
»Was? Nein – ich meine, doch! Er heißt Haelfas und ist ein Elf –«
Ein was?
»Ein Elf! Ich meine –« Sie stockte. Hatte Haelfas eigentlich je wirklich gesagt, dass er ein Elf war? Oder hatte sie es einfach angenommen, weil er so aussah wie ein Elf aus ihren Fantasybüchern? »Ich dachte –«
Seelentauscherin, du hast schon viele fremde Seelen berührt. Aber hüte dich, den zu berühren, den du als Haelfas kennst. Ich rate dir, nicht hier auf seine Rückkehr zu warten. Lauf, sofort, und dreh dich nicht mehr um.
»Aber –«
Das Gesicht löste sich auf. Da war nur noch das Wasser des Perlenflusses, das dunkel an ihr vorbeiströmte.
Sonja war aufgesprungen, ohne es zu merken. Der Umhang rutschte ihr von den Schultern. Was hatte ihr der Flussgeist da gesagt? Wer oder was war Haelfas wirklich? Wie hatte sie nur so dumm sein können, einfach anzunehmen –
Das Wasser stieg.
Rasch, gurgelnd, bedrohlich, und sie begriff, dass der Flussgeist sie vertreiben wollte. Hastig hob sie den Umhang auf und wich zurück. »Ich gehe ja schon! Lass mich in Ruhe!«
Lauf, Seelentauscherin.
S o schnell sie konnte, kletterte Sonja die Böschung hinauf. Das Wasser folgte ihr noch ein paar Meter und blieb dann zurück. Als sie keuchend oben an der Straße ankam und sich umdrehte, war der Fluss wieder wie vorher: einfach nur Wasser, das dahinfloss.
Und was jetzt?
Sollte sie dem Flussgeist glauben? War Haelfas wirklich etwas anderes als ein Spielmann? Oder war der Flussgeist einfach nur boshaft und gemein und wollte sie in eine Falle locken? Vielleicht wie die Nixe im See im Goldenen Tal, die so nett ausgesehen hatte und sie beinahe ertränkt hätte? Aber vielleicht stimmte das auch gar nicht – Haelfas hatte sie vor der Nixe gewarnt, aber was, wenn Haelfas log?
Sie wollte es nicht glauben. Haelfas hatte ihr nichts getan, er hatte ihr geholfen und sie gerettet und seine Vorräte mit ihr geteilt und sie bis hierher gebracht. Andererseits … Sie blickte über den Fluss und sah, dass das Sternrückengebirge gar nicht mehr so weit weg war. Eigentlich konnte sie das jetzt auch selbst schaffen. Haelfas war vielleicht nicht der allerbeste Reisebegleiter, aber in den letzten drei Tagen hatte Sonja doch eine ganze Menge von ihm gelernt. Es war bestimmt besser, wenn sie allein weiterging; solange er bei ihr war, drohte ihm auch Gefahr.
Und es wäre nett, endlich mal wieder selbst zu entscheiden, was sie tat und wie schnell sie wanderte.
Lauf, und lauf schnell.
Sie legte den Umhang auf die Brückenmauer, holte tief Luft und rannte los.
Sie rannte über die Brücke, verließ die Straße, sprang über einen schmalen Graben und lief in die graswuchernde Wildnis, mit dem Blick auf die Berge.
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