Im Bann des Omphalos
Carodyne. Finde dich selbst, und du wirst frei. Aber wie? Er berührte die Wunde an seinem Hals und blickte auf das Blut an seinen Fingern. Wirklich oder nicht, das Schwert hatte ihn verletzt. Konnte er sich selbst einreden, daß es die Waffe nicht gab? War das Omphalos nur ein Traum?
Kein Traum, dachte er und erinnerte sich. Eine andere Wirklichkeit, möglicherweise, aber ganz gewiß kein Traum. Und eine Wirklichkeit, die für ihn vielleicht nur allzu bald enden würde.
Gongs pochten, als sie die große Opferhalle durch eine Seitentür betraten und zwischen der Plattform und den Andächtigen hineinkamen. Wieder schlugen die Gongs, kaum daß sie den Altar erreicht hatten, und ihr Echo hallte von der hohen Kuppeldecke wider. Es roch nach Räucherwerk und frisch vergossenem Blut. Priester mit blutbesudelten Armen hatten diesen Tempelteil zum Schlachthaus gemacht und die Leichen ihrer Opfer seitlich des Altars unordentlich aufgehäuft.
Carodyne blickte auf die pechschwarze Scheibe. Eine unvorstellbare Wildheit schlug ihm daraus fast greifbar entgegen, eine Drohung bevorstehender Vernichtung.
Kanin lauerte an der Schwelle des Interdimensionstors, beobachtete sie, wartete unbesänftigt.
Hostig brummte, als er den Sarg absetzte: »Entreißen wir ihnen Schwerter und tun, was wir können. Wenn dies das Ende ist, so wollen wir wie Männer sterben.«
»Geduld!« wisperte Albasar. »Tut nichts Unüberlegtes.«
Taneft hörte ihn und drehte sich um. Sein Gesicht war wutverzerrt, und er hatte die Hand wie zum Schlag erhoben. Doch bevor er auch nur etwas sagen konnte, eilte ein Akoluth herbei und verbeugte sich vor dem Hohenpriester.
»Mein Lord, rettet uns! Wir haben Kanin ein Dutzend Jungfrauen und zwei Dutzend Männer und Frauen geopfert, aber er zeigt sich nicht. Was können wir sonst noch tun?«
»Beten!« schnaubte Taneft. »Und warten. Ich werde mich um das, was getan werden muß, kümmern.«
»Bald, mein Lord?«
»Du vergißt dich. Denk daran, mit wem du sprichst!« Als der Mann sich duckend entfernte, wandte der Hohepriester sich an Carodyne. »Als du gefangengenommen wurdest, machtest du ein paar Behauptungen. Wenn du sie beweisen kannst, könnte es dir etwas einbringen. Schnell, sage mir, wie die Gunst Kanins zurückzugewinnen ist.«
Carodyne schaute ihn durchdringend an. »Und die Gegenleistung?«
»Dein Leben!«
»Als Sklave? In einem Käfig eingesperrt?«
»Als Hauptmann meiner Wache, mit Frauen, Gold und allem Luxus. Hilf mir jetzt, und du wirst es nicht zu bereuen haben. Das schwöre ich bei dem Gott, dem ich diene.«
Iztima drehte sich vom Sarg um, den sie eifersüchtig bewachte. »Nein! Der Bursche muß sterben!«
»Schweigt, Weib!«
»Taneft, Ihr sprecht zu Eurer Königin! Vergeßt das nicht!«
»Ich bin der Hohepriester Kanins. Hier hat nur mein Wort Gewicht. Mischt Euch nicht in Dinge, die Ihr nicht versteht.« Er drehte sich wieder Carodyne zu. »Beeil dich, antworte mir! Willst du mir helfen oder unter Folterqualen sterben?«
Carodyne lächelte scheinbar gelassen, während seine Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Sein Samen hatte Frucht getragen und zur Zwietracht zwischen Iztima und Taneft geführt. Aber es war eine Frucht, die rasch verderben mochte, wenn er zu lange wartete.
»Ihr laßt mir keine andere Wahl«, antwortete er. »Gebt mir, was Ihr mir versprochen habt, und ich tue Euren Willen.«
»Später, nachdem Kanin besänftigt ist. Also, wie läßt sich das machen?«
Carodyne zögerte. Er war versucht, den Rückzug der Wachen anzuordnen, ein Schwert, das angeblich für einen magischen Zweck benutzt werden sollte, und Iztima als Geisel an seiner Seite. Aber er wußte, daß Taneft das ablehnen würde. Der Mann war kein Narr, nur die Verzweiflung hatte ihn um Hilfe bitten lassen, und auch das nur, weil Mark den Gott besiegt hatte und seine Behauptungen deshalb vermutlich stimmten.
Irgendwo schrie ein Mann vor unerträglichen Schmerzen.
»Schnell!« Auf Tanefts Stirn perlte der Schweiß. »Sprich oder stirb!«
»Ihr seid der Hohepriester«, sagte Carodyne. »Ihr kennt die Rituale und Zeremonien, die vollzogen werden müssen. Laßt alles vorbereiten, während ich mit Kanin in Verbindung trete. Was ich dann sage, müßt Ihr tun, denn wenn nicht, wird es unser beider Tod sein.«
Nur gut, daß keiner, der an Zauberei glaubte, frei von Aberglaube war, nicht einmal Albasar. Carodyne blickte auf den Zauberer und las in seiner Miene. Jetzt war die Zeit, da er tun mußte, worum Albasar
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