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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Sekunden vorbei ist? Chronische Schmer zen stehen auf einem ganz anderen Blatt. Da gibt es kein Entrinnen. Wenn ich heute auf den Neunzehnjährigen in seinem Gipskorsett zurückblicke, beneide ich ihn.«
    Dave nimmt ein Stück Schweinefleisch in die Zange. »Ich denke, wir wären alle gerne noch einmal neunzehn.«
    Dave betrachtet Graham von einer professionellen War te aus, im unpersönlichen Licht der Vernunft. Dave ist nicht durch Emotionen belastet. Bei jedem Einsatz bekommt er schreckliche Dinge zu Gesicht. Seine Reaktion darauf ist professionell, zuverlässig, rational. Er sieht ein junges Mäd chen mit einer Schusswunde und denkt: »Wie kann ich verhindern, dass sie verblutet?« Und wenn feststeht, dass sie keine Überlebenschance hat, denkt er: »Wie kann ich ihr die letzten Minuten erleichtern?« Wenn er mich anschaut, frage ich mich mitunter, ob er einen Menschen in mir sieht, der ein völlig überflüssiges, nutzloses Leben führt. Während er Leben rettet, berate ich Frauen mit Platin-Kreditkarten, welche Handtasche sie zu ihren maßgeschneiderten Seidenkostümen tragen sollten, welche Ohrringe zu ihren teuren Hermes-Tüchern passen. Manch mal kommt mir der Gedanke, ob er vielleicht deshalb ausgezogen ist: Mit den unablässigen Dramen seiner Arbeitswelt konnte ich einfach nicht konkurrieren.
    »Und Sie?«, fragt Graham und sieht Dave an.
    »Ich?«
    »Welche Schmerzen waren die schlimmsten, die Sie jemals ertragen mussten?«
    »Das kann ich Ihnen auf Anhieb sagen. Vor ein paar Jahren hatte ich einen angeknacksten Zahn. Daraus ent stand irgendwann eine Wurzelentzündung. Der Zahnarzt, Dr. De Salvo, stocherte über eine Stunde in meinem Mund herum. Als er nämlich versuchte, den Zahn zu ziehen, zersplitterte er. Ihm blieb keine andere Wahl, als jedes Stück einzeln herauszuholen. Noch schlimmer war, dass der Eingriff ohne Betäubung stattfinden musste, weil sich die Entzündung direkt am Nerv befand. Als er endlich fertig war, kippte ich aus den Latschen. Als ich wieder zu mir kam, beugte er sich über mich und entschuldigte sich. Doch das war noch nicht das Schlimmste. Offenbar hatte er den Nerv freigelegt. Ich ging nach Hause, mit Medikamenten voll gepumpt, und irgendwann in der Nacht ließ die Wirkung der Schmerzmittel nach. Es war die Hölle!«
    »Er weinte wie ein kleines Kind«, sage ich.
    »Dieses ausgewachsene Mannsbild? Weinte? Kaum zu glauben«, sagt Stacy.
    Woran ich mich aus jener Zeit am deutlichsten erinnere, ist die Intensität meiner Gefühle für Dave. Als er Schmerzen hatte, sah ich ihn, und uns, plötzlich mit anderen Augen. Auf einmal schien dieser Mann, der in jeder Situation vor Selbstsicherheit strotzte, verwundbar zu sein. Dave, der Retter, war auf mich angewiesen, wenn auch nur für eine kurze Weile. Vor Jahren hatte sich die Zuneigung, die ich für ihn empfand, in Liebe verwandelt, weil er für mich da war, als Amanda Ruth starb. Er hatte die richtigen Worte gefunden, um mich zu trösten, war ein treuer Begleiter in den ersten schrecklichen Tagen und Wochen nach ihrer Ermordung. Obwohl es furchtbar war, mit ansehen zu müssen, wie Dave litt, genoss ich seine Schwäche ins geheim. Ich wachte über ihn wie eine hingebungsvolle Mut ter. Zum ersten Mal während unserer Ehe hatte ich das Gefühl, dass ich von ihm gebraucht wurde, die Situation unter Kontrolle hatte.
    »Und was ist mit Ihnen?« Graham stößt mich mit dem Ellenbogen an. »Welche Schlüsselerfahrung hat Ihre Schmerzschwelle bestimmt?«
    »Ich war vierzehn«, sage ich, bemüht, Grahams Blick auszuweichen, in der Gewissheit, dass mir jeder ansieht, wie sehr ich mich zu ihm hingezogen fühle, wie schwach meine Stimme klingt, wenn ich das Wort an ihn richte. »Es passierte in Alabama, beim Reitunterricht – Miss Linda brachte mir an jenem Tag bei, wie man im leichten Galopp reitet –, mein Pferd bäumte sich auf, warf mich ab und fiel auf mich drauf. Beckenbruch, Fraktur an beiden Hüften.«
    Dave schaut mich an, als wäre ich eine Wildfremde, eine Passantin von der Straße. Graham beugt sich zu mir. Ich trage ein ärmelloses Kleid und spüre den groben Stoff seines Hemdes an meiner bloßen Schulter. »Weiter«, sagt er.
    »An die Fahrt ins Krankenhaus, zur Notaufnahme, erinnere ich mich nur noch verschwommen. Doch die Sanitäter, die mich von der Rollliege auf einen kalten Metalltisch im Röntgenraum hievten, sind mir sehr deutlich im Gedächtnis geblieben. Dann ließen sie mich alleine, mit einer Krankenschwester, einer

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