Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Baiji-Saftflaschen und zerlumpten Schuhe, die flussabwärts driften, sind geradezu eine Wohltat im Vergleich zu den Mengen an Müll, mit dem der fantastische Jangtse verunreinigt ist, in den der Chin-huai mündet.
Graham führt uns durch eine Reihe schmaler Gassen zu einem kleinen Straßenlokal, über dessen Türschwelle ein Keramik-Buddha hängt. Ein junges Pärchen sitzt an einem der Tische, in eine leise Unterhaltung vertieft. Zwei Jungen im Teenageralter rauchen Zigaretten neben dem Fenster. Alle Gäste drehen sich um und starren uns an, als wir eintreten. Die Besitzerin begrüßt uns mit einem Lachen. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und klopft Graham auf die Schultern.
»Ich habe sie bei meiner ersten Flussfahrt kennen gelernt«, erklärt er. »Seither komme ich immer wieder in dieses Restaurant zurück.«
Die Frau plaudert ein paar Minuten mit Graham, dann unterzieht sie Stacy, Dave und mich einer gründlichen Musterung. Sie berührt Stacys Haare und befühlt den Stoff meines Kleides, danach bedeutet sie Dave mit einer Geste, er habe sehr breite Schultern. Sie sagt etwas zu ihm. Graham übersetzt. »Meine Freundin möchte wissen, wie viel Sie im Jahr verdienen.«
Dave zuckt mit den Achseln. »Jenny und ich können ganz anständig davon leben.«
Graham übersetzt den Dialog. »Wie viel genau?« Als keiner von uns beiden antwortet, lacht er. »Daran müssen Sie sich gewöhnen. Sie werden feststellen, dass jeder in China wissen will, wie hoch Ihr Einkommen ist.«
Die Frau weist uns einen Tisch zu und ruft etwas über ihre Schulter in Richtung Küche. Prompt erscheint ein junges Mädchen, das uns eine Platte mit gekochten Tintenfischen bringt. Binnen Minuten werden Schalen und Schüsseln aufgefahren: Schweinefleisch in einer kräftigen roten Soße, Reisnudeln mit geschnetzeltem Rindfleisch, scharfe grüne Bohnen und Tofu mit gewürfeltem Huhn. Sie bringt uns zwei Flaschen warmes Tsing-Tao-Bier, das sie auf vier Gläser verteilt.
»Jenny hat mir erzählt, dass Sie in China Handel treiben«, sagt Dave.
»Früher schon«, erklärt Graham. »Sicherheitsvorrichtungen für Baukräne. Während der achtziger Jahre, im Zuge von Deng Xiaopings Reformen, wurde im ganzen Land wie verrückt gebaut. Geschäfts- und Wohnkomplexe schossen überall wie Pilze aus dem Boden. Ausländer und chinesische Unternehmen konnten sich damals gleichermaßen eine goldene Nase verdienen. Meine Firma erhielt den Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Kräne sicher für die Bauarbeiter waren.«
»Was hat Sie bewogen, aus einem so lukrativen Geschäft auszusteigen?«
»Der Drei-Schluchten-Damm. Die Regierung lobte die Vorzüge des Staudamms über den grünen Klee und die Leute scheffelten Geld wie Heu. Ich gestehe, dass ich eben falls Dollarzeichen in den Augen hatte, genau wie alle anderen. Doch je mehr ich über das Projekt las, desto größer wurden meine Bedenken.«
»Was ist dagegen einzuwenden, wenn man mit Hilfe des Damms Energie gewinnt?«, fragt Dave. »Und die Überschwemmungen in Schach hält?«
Graham zuckt mit den Schultern. »Sagt man. Und vielleicht stimmt es auch, in gewissem Maß. Doch letztendlich ist der Preis zu hoch, den man dafür zahlt. Ich bin dutzende Male auf diesem Fluss hin und her gefahren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ihn einfach ›zustöpselt‹. Das wäre eine Schande.«
Die Unterhaltung erstirbt. Um uns herum die Geräusche der Stadt: Auf den Straßen schrillen hunderte von Fahrradklingeln. Verkäufer preisen den Passanten marktschreierisch ihre Waren an. Einige ältere Männer sitzen direkt an der Türschwelle an einem Tisch und spielen Mahjongg, setzen klackernd die Steine und verkünden mit lauten, erregten Stimmen die erreichte Punktzahl. Hin und wieder brechen sie in Gelächter aus. Jenseits des roten Vorhangs, der den Speiseraum von der Küche trennt, geht Geschirr zu Bruch. Stacy betrachtet ihr Bier, ohne es zu trinken, und ich schiebe einen Fischkopf auf meinem Teller hin und her. Das tote Auge starrt mich an. Graham wirkt gedankenverloren. Dave spitzt mittlerweile die Ohren, sieht sich um, nimmt seine Umgebung mit allen Sinnen wahr. Er blüht auf, wenn Chaos herrscht. Je lauter es ringsum zugeht, desto besser kann er sich konzentrieren. Ich erkenne an der Art, wie er seine Essstäbchen fein säuberlich rechts und links neben seinen Teller legt, als wären es Löffel und Gabel, und die Serviette auf seinem Schoß zurechtrückt, dass er sich anschickt, eine ganze Batterie von Fragen
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