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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Modernisierungen!«, erwidert Elvis Paris stolz. »Industrie, Landwirtschaft, Verteidigung, Wissenschaft.«
    Elvis Paris muss die Brücke dutzende Male bei seinen endlosen Reisen entlang dieser obligatorischen Route gesehen haben, dennoch blickt er mit unverhohlenem Staunen zu ihr empor. »Diese Brücke wahres Symbol von modernes China. Zwanzigtausend Fuß lang. Brücke ist viel eindrucksvoll, aber Drei-Schluchten-Damm wird mehr eindrucksvoll.«
    Wir finden Graham, dann warten wir auf Stacy, die einige Minuten nach unserer vereinbarten Zeit erscheint, in einem Minikleid aus blauem Denim und Laufschuhen. »Um ein Haar wären wir ohne Sie aufgebrochen«, neckt Dave sie.
    »Bestimmt nicht.« Sie sieht ihn an, wie ihn viele Frauen im Laufe der Jahre angesehen haben, mit einem Gemisch aus weiblichem Interesse und Neugierde, Belustigung und, vielleicht, einer vagen Hoffnung. Dave ist kein Mann, den man auf Anhieb bemerkt. Seine Attraktivität hat eine subtilere Note. Ich kann inzwischen schon gar nicht mehr zählen, wie oft die Frauen an den Nachbartischen, wenn wir in einem Restaurant mitten beim Essen waren, plötzlich reihenweise zu uns herüberschauten, als nähmen sie ihn erst jetzt richtig wahr . Dass sie ihn wahrnehmen, erkenne ich daran, dass ein gewisser Ausdruck über ihr Gesicht huscht – blitzschnell und instinktiv –, bevor sie den Blick abwenden. Danach spähen sie immer wieder herüber, möglichst unauffällig, wohl in der Hoffnung, einen Blick von ihm zu erhaschen. Er gehört nicht zu der Sorte Männer, bei denen ein Raunen durch die Menge geht, wenn sie den Raum betreten. Frauen werden sich seiner Gegenwart erst allmählich bewusst, wie eines Dunstes oder schwachen Dufts, der in der Luft liegt, wie einer Musik, die im Hintergrund ertönt, so leise, dass deren Vorhandensein einem völlig entgeht, bis sich plötzlich eine einzelne ungewöhnliche Note vom Lärm im Umfeld abhebt. Ich habe versucht, diese Eigenschaft zu analysieren, habe herausfinden wollen, was genau an den einzelnen Elementen seines Gesichts, den bedachten Gesten seiner Hände Frauen langsam und unwiderstehlich anzieht. Zwölf Jahre und ich kann es immer noch nicht genau sagen. Obwohl ich ihn wegen seiner Unergründlichkeit liebe, wegen seiner Fähigkeit, mir Jahr für Jahr Rätsel aufzugeben, weiß ich, dass ich für ihn jeden Anflug von Unergründlichkeit verloren habe.
    Wir bleiben zurück, bis sich die anderen Passagiere in Marsch gesetzt haben, dann begeben wir uns über die schlüpfrige Gangway an Land. Graham eilt voraus, eine matschige Treppe hinauf, dann mitten durch einen Trupp zerzauster Soldaten, die halbherzig Sandsäcke übereinander stapeln. Wir gehen unter Platanen entlang, die über unseren Köpfen ein Schutzdach bilden und im Regen duften, und finden uns an einem kleinen Flüsschen wieder, das sich in Kaskaden zum Jangtse hinunter ergießt.
    »Der Chin-huai«, erklärt Graham. »Hier lagen die legendären Blumenboote vor Anker.«
    »Blumenboote?«, fragt Stacy, mit der Schuhspitze im weichen Sand scharrend.
    »Als ich vor zwanzig Jahren zum ersten Mal China be reiste, konnte man sie noch hier sehen. Auf jedem Boot war eine Papierlaterne angezündet und im Heck stand ein Mäd chen in farbenprächtigen Seidengewändern. Die Mädchen hielten Papierfächer mit den Namen von Liedern in den Händen, die sie auf Bitten der Zuhörer sangen.«
    »Klingt romantisch.«
    »Schon, war allerdings ein knallhartes Geschäft. Jedes Tingeltangel-Mädchen wurde von einigen alten Männern auf handgemachten Saiteninstrumenten begleitet und wenn s ie fertig war, hatte man die Möglichkeit, die Nacht mir ihr auf dem Boot zu verbringen. Wenn sich beide handelseinig waren, gingen die alten Männer von Bord, das Mädchen löschte das Licht und man blieb mit ihr alleine.«
    »Das klingt, als hätten Sie selbst Erfahrungen mit einem dieser Tingeltangel-Mädchen gemacht«, sage ich.
    Graham zwinkert mir zu. »Möglich.«
    Ich stelle mir Graham vor, wie er auf dem Boot den Fluss hinuntertreibt, eingelullt vom Klang der Stimme des Tingeltangel-Mädchens, dem Flackern der Lichter. Ich stelle mir vor, wie er unter ihrer Berührung erschauert. Die Blumenboote sind verschwunden und die Stimmen der Tingeltangel-Mädchen, falls es heute noch welche hier gäbe, würden untergehen bei dem Verkehrslärm im Hafen und dem Donnern des Zuges, der über die Brücke fährt. Doch das Wasser ist beinahe klar und die vereinzelten Kaugummi-Einwickelpapiere,

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