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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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abzufeuern.
    »Wie ich hörte, leiden Sie unter der Lou-Gehrig-Krankheit, Graham.« Ich versetze Dave einen leichten Fußtritt unter dem Tisch, doch er fährt ungerührt fort. »Haben Sie Schmerzen?«
    Weit davon entfernt, sich überrumpelt zu fühlen, scheint Graham die Frage nicht das geringste Unbehagen zu bereiten. »Ja, ziemlich oft sogar. Im Augenblick nicht, doch es vergeht kaum eine Woche, in der sie mich nicht irgendwann heimsuchen. Das Schlimmste an ALS ist nicht der Muskelschwund an sich, sondern die Nebenwirkungen, die damit einhergehen, die Beschwerden und Schwellungen, die nicht abklingen wollen.«
    »Gott, das klingt ja schrecklich«, sagt Stacy. Sie kämpft mit einem Stück Tintenfisch, das zwischen ihren Stäbchen wegrutscht und auf ihrem Schoß landet.
    »Wie geht man damit um?«, fragt Dave.
    »Zuerst konnte ich gar nicht damit umgehen. Ich weinte wie ein Kind, verkroch mich im Bett, mit der Fern bedienung und Baywatch. Der Fernseher lief Tag und Nacht, denn wenn es still wurde, war ich kurz vor dem Durchdrehen. Ich pflegte dazusitzen und mir vorzustellen, wie das Ende aussehen würde, an den Rollstuhl gefesselt, an Schläuche mit irgendeiner Nährflüssigkeit angeschlos sen. Es dauerte ein paar Monate, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen und die Situation aus einer realistischen Warte überprüfen konnte. Ich gelangte zu dem Schluss, es sei das Beste, mein Leben jeden Tag zu genießen, solange es währt. Deshalb bin ich hier – um die Zeit, die mir noch verbleibt, in dem Land zu verbringen, das ich liebe.«
    »Ich habe ein Buch über einen Mann mit dieser Lou-Gehrig-Krankheit gelesen«, sagt Stacy. Sie hat den Kampf mit den Stäbchen aufgegeben, nimmt ein Stück Tintenfisch in die Hand und katapultiert es in den Mund. »Es war sehr inspirierend.«
    »Ich kenne es vermutlich auch«, sagt Graham. »Eine Weile verschlang ich sämtliche Veröffentlichungen über das Thema ALS. Ich konnte die Statistiken im Schlaf herunterbeten. Zwanzig Prozent der Betroffenen überleben die ersten fünf Jahre nach Ausbruch der Krankheit. Zehn Prozent schaffen zehn Jahre.« Er erwidert meinen Blick. »Doch ich habe nicht vor, herumzusitzen und Däumchen zu drehen, bis mich diese vermaledeite Krankheit zum Krüppel macht.«
    »Vor einigen Jahren wurden wir zu einem Einsatz gerufen«, sagt Dave. »Selbstmordversuch. Eine neunundvierzigjährige Frau. Sie hatte versucht, sich an der Lampe in ihrem Esszimmer aufzuhängen, doch der Strick riss und ihre Tochter fand sie eine Stunde später auf dem Fußboden. Es stellte sich heraus, dass sie ALS hatte. Sie wollte einfach nicht mehr so weiterleben.«
    Stacy räuspert sich. Graham blickt sich am Tisch um. »Kopf hoch, Freunde«, sagt er, doch sein Tonfall entbehrt jeder Munterkeit. Schweigen tritt ein. Graham hebt seine Schale zum Mund und trinkt den Rest der Suppe aus. Die Bedienung ist unverzüglich an seiner Seite und füllt die Schale nach.
    »Die Krankheit hat auch ihr Gutes. Ich habe gelernt, Schmerzen wieder in die richtige Perspektive zu rücken. Mit neunzehn lag ich nach einem Motorradunfall ein halbes Jahr in Gips, von Kopf bis Fuß. Dagegen kommen mir die letzten sechs Monate wie ein Sonntagsspaziergang vor. Ich habe eine höhere Schmerzschwelle erreicht, eine neue Messlatte, die ich bei allen anderen Schmerzen anlege. Ich werde euch zeigen, was ich meine.« Er sagt etwas zu der Bedienung, die ihm ein Streichholzbriefchen bringt. Graham zündet das Streichholz an, dann hält er es direkt unter seine geöffnete Handfläche. Die Spitze der Flamme berührt seine Haut, doch er zuckt mit keiner Wimper. Er bewegt das Streichholz nicht von der Stelle, bis es heruntergebrannt ist. Ich beuge mich vor und blase die Flamme aus.
    »Bravo«, sagt Dave.
    Graham streckt uns die Handfläche zur Begutachtung entgegen. Ein kleiner Fleck in der Mitte seiner breiten Hand ist angesengt. Das gesamte Bedienungspersonal umringt uns, veranstaltet ein Getöse. Ein hübsches junges Mädchen mit einer schmalen weißen Narbe, die sich vom linken Auge bis zur Wange erstreckt, deutet auf Graham und ruft » Gweilo !« Die alte Frau sagt etwas, was Personal und Gäste gleichermaßen zum Lachen bringt, dann scheucht sie alle von unserem Tisch weg.
    »Ihr wisst jetzt, worauf ich hinauswill.« Graham verändert seine Sitzposition, sein Bein streift das meine. »Das Bravourstück, das ich gerade vorgeführt habe, war natürlich unangenehm, doch was macht das, wenn man weiß, dass es in wenigen

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