Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
sich um den berühmten Lu shan Tee rankt«, sagt er. »Er durfte nur von Jungfrauen ge pflückt werden. Es war der köstlichste Tee, den man sich nur vorstellen kann. Heutzutage wird in dieser Region kaum noch Tee angebaut. Die Leute haben sich auf den Export von Reis verlegt.«
Wir stehen schweigend da. Wohin mein Blick auch fällt, überall entdecke ich Staunen erregende Dinge – Wasserfälle, Höhlen und Baumgruppen in voller Blüte –, die mit dem Nebel, der über den Berg driftet, wie von Zauberhand erscheinen und verschwinden. »Ich komme mir vor wie in einem Landschaftsgemälde.«
»Oder wie im Traum.«
»Wie alt warst du bei deiner ersten Chinareise?«
»Fünfundzwanzig.«
»Warst du damals nicht verheiratet?«
»Doch, schon. Meine Frau stammte aus Beijing. Wir lernten uns in Sydney an der Universität kennen, Liebe auf den ersten Blick, mit allem, was dazugehört. China war damals ganz anders, eine Welt für sich. Auf dem Fluss herrschte kaum Verkehr. Es gab noch keine großen Kreuzfahrtschiffe. Wir mussten ziemlich lange schachern und feilschen, um auf einem chinesischen Dampfschiff mitgenommen zu werden.«
Ich habe bei unserer Fahrt flussaufwärts hunderte solcher Boote gesehen. Sie wirken klein und gedrungen im Vergleich zur Red Victoria, haben allerdings wesentlich mehr Passagiere an Bord. Oft liegen sie gefährlich tief im Wasser, so dass es den Anschein hat, als würden sie bei der nächsten unverhofften Welle untergehen. Wäsche hängt auf der Leine und bildet einen hohen Sonnenschutz an Deck. Während sich die Passagiere auf unserem Schiff in die voll klimatisierten Räumlichkeiten zurückziehen können, um kühle Cocktails zu schlürfen und die unbekannte Welt durch große Panoramascheiben vorübergleiten zu sehen, spielt sich das Leben der chinesischen Passagiere an Deck ab: dort machen sie ihre Tai-Chi-Übungen, essen, rauchen, singen, quetschen sich an die Reling und rufen vorbeifahrenden Schiffen Grußworte zu. Die chinesischen Reisenden scheinen sich an Deck heimisch zu fühlen, während man auf der Red Victoria meinen könnte, dass sich viele Passagiere mental bereits auf dem Rückflug befinden.
»Was hat dich ursprünglich bewogen, hierher zu kommen?«, frage ich.
»Unter dem Strich würde ich sagen, meine Mutter. Sie wollte abends immer in ihrem eigenen Bett schlafen, also kam sie nie über einen Umkreis von hundert Meilen um unser Haus in Perth hinaus. Als Kind wünschte ich mir verzweifelt, Sydney und Melbourne, Neuseeland und London kennen zu lernen, doch wenn wir ins Auto stiegen, um einen Ausflug zu machen, ging dieser nie über drei oder vier Stunden hinaus und je länger die Fahrt dauerte, desto kürzer war der Aufenthalt an unserem Zielort. Man hätte meinen können, meine Mutter besäße einen eingebauten Entfernungsmesser. Wenn eine bestimmte Grenze erreicht war, schrillte in ihrem Kopf eine Alarmglocke und sie sagte ›Wir sollten jetzt umkehren‹, selbst wenn wir nur noch einen Katzensprung vom achten Weltwunder der Moderne entfernt waren. Ich spürte gleichwohl immer, dass sie mit sich kämpfte. Vermutlich wäre sie gerne abenteuerlustig gewesen. Sie verschlang Reisebücher und konnte die ausgefallensten Einzelheiten über die Bewohner der Aleuten oder aus der Geschichte Islands erzählen.«
Graham vergräbt sein Gesicht in meinen Haaren. Ich spüre, wie sich mein Rücken an seine Brust schmiegt, wie wohl ich mich in seiner Umarmung fühle. Mein Instinkt sagt mir, dass ich mich von ihm fern halten sollte – die Kreuzfahrt dauert nur noch acht Tage, acht Tage, bis ich nach New York zurückkehre und er wieder nach Australien fliegt. Ich wüsste gerne, ob wir uns jemals wiedersehen werden, wenn diese Reise zu Ende ist. Ich stelle mir die Briefe vor, die ich ihm schreiben könnte, mit einer verhaltenen, jedoch aufrichtigen Erotik, entfacht durch die Entfernung. Ich stelle mir vor, dass seine Briefe allmählich in immer größeren Abständen eintreffen, bis Wochen und Monate vergehen, ohne dass ich von ihm höre, und ich davon ausgehen muss, dass er tot ist. Ich besitze noch heute Amanda Ruths Briefe aus Montevallo. Darin erklärte sie mir ohne Vorbehalt ihre Liebe, genau wie ich in meinen, obwohl Amanda Ruths Briefe im Verlauf des Semesters seltener wurden, die Abstände immer länger. Im November schickte sie mir eine Ansichtskarte vom Little Pigeon River. Auf der Rückseite standen ein paar Zeilen über eine Reise nach Tennessee, die sie mit einem Mädchen namens
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